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Auseinanderleben und Gemeinsamkeit

15. Oktober 2024

Die Gastwirtschaft im Stadtteil gibt es nicht mehr. Das Inhaberpaar hat aufgehört, aus Altersgründen. Sie sind in die Nähe ihrer Tochter gezogen, in eine entfernte Gegend, können dort die Enkelkinder betreuen und sich selbst im Haushalt helfen lassen. Für die Nachfolge in dem Lokal wurde niemand gefunden. Es war der Treffpunkt des Stadtteils, ein über lange Zeit gewachsenes Begegnungszentrum, hier kamen die Leute aus der Nachbarschaft zusammen, zum Trinken, Essen und vor allem zum Reden, an Stammtischen, in Vereinen, zu Geburtstagsfeiern und Familienfesten oder spontan. Nun verlangt die Stadt mehr Parkplätze, für die kein Platz da ist, Personal fehlt auch, und öfters haben sich Nachbarn, neu zugezogene, beschwert, weil Gäste sich nachts noch auf der Strasse unterhalten haben. Die Leute im Viertel gehen oder fahren seither in Gaststätten weiter weg, wo sie niemanden kennen. Manche bleiben zu Hause, sitzen vor dem Fernseher oder Rechner, lassen sich bei Bedarf Essen liefern. Im ehemaligen Gasthaus werden wahrscheinlich Wohnungen eingebaut.

So ist es schon lang in vielen Orten auf dem Land. Dort haben wie die Gasthäuser die Lebensmittelläden und die Poststellen zugemacht, sogar die letzte Bäckerei und die Schule wurden geschlossen, Handwerksbetriebe sind weg, in der Kirche findet nur noch selten ein Gottesdienst statt. Für die Menschen, die da noch wohnen, ist es nicht mehr leicht, zusammenzukommen, sie sehen einander nur bei Gelegenheit oder müssen es sich vornehmen, haben sonst für ein Gespräch vielleicht zu wenig Zeit. Zugezogene legen oft kaum Wert auf Kontakte, sie sind wegen eines günstigen Bauplatzes oder einer billigen Mietwohnung hergekommen und steigen in ihr Auto, um anderswo jemanden zu treffen. Wer das nicht kann oder will, hat wenigstens ein Telefon und kann mit Bekannten in aller Welt reden oder über das Internet kommunizieren.

Vereine lösen sich mangels Nachwuchs auf, Musik-, Sport- oder Naturschutzvereine. Ihre Mitglieder haben mit viel unbezahltem Aufwand die Gemeinschaft am Ort bereichert, Feste veranstaltet und Aktivitäten angeboten. Als Ersatz bietet das Fernsehen bunte Bilder von weit her. Die Verwaltungsreformen seit Jahrzehnten haben mit Eingemeindungen und neuen Grossgemeinden zum Zweck der Rationalisierung Dörfern und Kleinstädten das eigene Rathaus und die Selbstverwaltung genommen, und dies bedeutete nicht nur einen Verlust an Demokratie, sondern auch weniger Verantwortung der Menschen für ihr örtliches Gemeinschaftsleben.

Die Menschen leben sich auseinander, jedenfalls in unserem Land, in Europa und der Zivilisation des Westens, auch in anderen globalisierten Regionen. Diese Entfremdung geschieht im Grossen und im Kleinen, in der Gesellschaft und in den Familien oder Lebenspartnerschaften. Die Beziehungen werden lockerer und führen schneller zur Trennung. In der Folge leben vorwiegend Frauen als Alleinerziehende. Immer mehr Menschen wohnen allein, ohne Kinder. Häufiger wachsen Einzelkinder auf, und für ihre soziale Entwicklung ist es hilfreich, wenn sie in einer Kindertagesstätte aufgenommen sind. Dennoch wird festgestellt, dass sich immer mehr Kinder schon einsam fühlen.

Die entscheidende Ursache ist eine alte europäische Idee: der Individualismus. Demnach kann jeder Mensch sich für besonders halten - die Gemeinschaft ist weniger massgeblich als in anderen Kulturen. Das Individuum entwickelt Selbstbewusstsein und den Wunsch nach Freiheit. Dies ist bewundernswert, so wie weitere Fähigkeiten und Werte, die infolgedessen zustande gekommen sind: gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt, Toleranz, Menschenrechte … Zugleich veranlasst das alles, dass die Menschen sich voneinander entfernen, dass sie einander weniger verstehen, dass sie weniger Halt haben und mehr Druck zu persönlicher Leistung empfinden. Wenn ihnen keine Partnerschaft gelingt und sie sich keiner Gemeinschaft mehr verbunden sehen, sind sie heimatlos und allein.

Der Kapitalismus und die Industrialisierung haben die Menschen weiter voneinander entfremdet, durch den Zwang zur Konkurrenz um Arbeit, Einkommen und Aufstieg sowie durch die geforderte Mobilität und Flexibilität, also das Arbeiten und Wohnen an immer wieder anderen Orten, mit fremden Menschen. Der dabei willkommene Wohlstand hat die Unterschiede zwischen den Einzelnen noch verstärkt, die Abstände zwischen ihnen vergrössert und ihre Interessen mehr auf Materielles als auf Zwischenmenschliches gerichtet. So wurde erst in Europa und Amerika, dann weltweit Migration ausgelöst, Millionen Menschen verliessen auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand ihre armen Regionen und ihre Familien und siedelten sich in unüberschaubaren Metropolen an.

Nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges waren die faschistischen Regimes in europäischen Ländern der Versuch, die Zeit zurückzudrehen und neue Volksgemeinschaften in künstlichen Heimaten zu stiften - mit Gewalt, rassistischer Ausgrenzung, ohne Freiheit, unter Diktaturen mit verlogenen Ideologien und Gleichschaltung des Denkens und Lebens.

Als das wieder ins Chaos geführt hatte, war eine Zeit lang »Coolness« verbreitet: Meist junge Leute wollten mit Gesichtsausdruck, Gesten und Sprechweise zeigen, dass die Welt und die anderen Leute sie nicht berührten, für sie kein Anlass einer Gefühlsregung waren; sie wirkten geheimnisvoll und abweisend. Dazu passte das Tanzen in den Diskotheken, einzeln bei Musik, die zu laut war für ein Gespräch.

In der Corona-Zeit wurde die Vereinzelung offen sichtbar - »Abstand halten« war das Gebot der persönlichen Sicherheit, das viele fraglos befolgten.

Die Pandemie hat die Digitalisierung vorangetrieben. Bei Heimarbeit sehen Kolleginnen und Kollegen einander nur noch manchmal auf dem Bildschirm. Was einmal eine wirkliche Versammlung war, ist inzwischen virtuell. Digitale Kommunikation ersetzt die Begegnung von Menschen, auch wenn sie sich in nächster Nähe aufhalten. Sie ist sehr eingeschränkt, bedingt nicht selten mehr Aufmerksamkeit für die Technik als für die Menschen, besteht oft nur noch aus simplen Zeichen (Likes, Emojis). Die Fähigkeiten zu genauem sprachlichem Ausdruck schwinden. Es läuft auf Phrasen, Sprachlosigkeit und Unverständnis zwischen Einzelnen und zwischen Bevölkerungsgruppen hinaus.


Das »Lädele« in Öhningen-Schienen wurde 2006 eröffnet.

Gemeinschaft bleibt aber für die individuellen Persönlichkeiten lebenswichtig, ebenso gelingende Kommunikation und Verständigung mit anderen. Die Gemeinschaft wird gebraucht für ausreichende Versorgung, für Austausch, fürs Mitteilen, für Zusammenarbeit, für Sicherheit, für Problemlösungen, für Weiterentwicklung. Die Aufgabe ist, persönliche Freiheit mit Wertschätzung der Gemeinsamkeit zu verbinden, mit Verantwortung für das Miteinander, mit Gemeinsinn. Gemeinsam erreichen wir mehr und Besseres als allein. Gemeinwohl schafft Wohlbefinden.

Aus diesem Bedürfnis entsteht schon einiges. Es werden wieder Gefühle gezeigt. Trotz zeitweiliger Bedenken begrüssen Befreundete einander mit Umarmung. Neue Stadtteilzentren, Dorfläden und Bäckerei-Cafés öffnen. Aus Reisen und Migration ergeben sich für Menschen, die einander mit Interesse und Achtung begegnen, wertvolle Erfahrungen. In einem Stadtteil, in dem das regelmässige Bürger- und Bürgerinnenfest vor Jahren aufgegeben wurde, hat der türkische Kulturverein mithilfe seiner Familien zum zweiten Mal in einer Grünanlage ein Deutsch-Türkisches Sommerfest veranstaltet.

Matthias Kunstmann / maximil

[Dazu:
Gemeinsamkeit nützt allen]

Themen: Allgemein · Kultur · Politik

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