Fantasie ist etwas Schönes. Sie macht das Leben interessanter. Sie lenkt auch von unbequemen Umständen ab. In der Einbildung funktioniert alles besser. Unglaubliche Dinge werden wahr. Deshalb geben Menschen sich gern Fantasien hin. Es müssen gar nicht eigene sein, Fantasien werden von verschiedenen Seiten in grosser Vielfalt und teils perfekter Form angeboten: in Filmen, Büchern, dem Internet, in Musik und anderer Kunst, in der Werbung. Und auch in der Politik und in Informationsmedien.
Die Realität kann sehr unterschiedlich gesehen werden. Bilder und Geschichten aus Medien mischen sich mit ihr. Wenn sie unverständlich oder unangenehm ist und zu schwierig wird, machen Leute sich etwas vor oder lassen sich etwas vormachen. Aus spielerischen Fantasien entstehen Illusionen, an die geglaubt wird. Die Leute täuschen sich und verlieren die Realität.
»Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt« – gegen diesen Spruch von Pippi Langstrumpf ist nichts zu sagen, wenn jemand wirklich die Welt gestaltet. Es ist aber gefährlich, wenn jemand die reale Welt nicht mehr wahrnimmt. Und es kommt vor, dass eine gesellschaftliche Mehrheit sich von der Realität verabschiedet.
Das geschieht seit einiger Zeit wieder hierzuland und weithin in Europa sowie anderswo. Die meisten Menschen leben in Illusionen verschiedener Art, die von Interessengruppen verbreitet und bestärkt werden.
»Palast der Illusionen« in Prag 1908
Es wird geglaubt, dass Wohlstand glücklich macht, und nicht gesehen, dass seine Qualität entscheidend ist: ob er mit Gerechtigkeit verbunden ist, ob er gesund ist, ob er Zeit und Ruhe lässt, ob er wirklich Bedürfnisse stillt.
Wachstum gilt als hoher Wert, egal ob es sinnvoll oder zerstörerisch ist. Wachsende Unternehmensgewinne – was kosten sie uns und die Natur? Wachsende Siedlungsflächen – wie weit sind dann die Naherholungsgebiete entfernt? Immer mehr Schadstoffe – kein Grund zur Sorge, wenn sie nicht sichtbar sind? Zunehmende Infrastruktur, Gebäude, Verkehrswege, Einrichtungen – wo sind die zusätzlichen Arbeitskräfte, die für den Betrieb und die Instandhaltung sorgen?
Die Wirtschaft wird gefördert und hochgeschätzt, obwohl sie mit ihren Kapitalinteressen die Politik und die Lebensbedingungen beherrscht. Für sie wird die Landschaft zugebaut, die Industrie bekommt günstigere Energietarife und weitere Subventionen auf Kosten der privaten Haushalte, sie verschärft mit ihren Profiten die soziale Ungleichheit, sie verunsichert mit ihren Innovationen die Bevölkerung, die sich immer wieder an Neues gewöhnen soll. Deutschland feiert sich als eine der führenden Exportnationen und ist zugleich mit führend im Rüstungsexport – todbringende Produkte in der Welt zu verbreiten, ist gar kein Grund, stolz zu sein. Alles das und mehr wird ausgeblendet, wenn die Wirtschaft allgemein für eine Wohlstandsgarantie gehalten wird. Die Wirtschaft besteht aber auch aus dem Handwerk, landwirtschaftlichen Familienbetrieben, vielen kleinen Unternehmen für Dienstleistung und Produktion, freiberuflich Tätigen und vor allem der gemeinnützigen und öffentlichen Wirtschaft mit dem Gesundheitswesen, Kindertagesstätten, Verkehrsbetrieben, Bildungs- und Kultureinrichtungen und vielen anderen Stellen der Daseinsvorsorge. Die Arbeit hier wird bisher teils zu gering bezahlt, aber sie verdient wirkliche Anerkennung.
Die Privatisierung von öffentlichen (also den Bürgerinnen und Bürgern gehörenden) Unternehmen wird weiter betrieben, weil sie angeblich zu besseren Leistungen führt – ungeachtet negativer Erfahrungen. Oft sind die Leistungen schlechter, in der Regel sind sie teurer, schon weil Privatunternehmen möglichst hohe Gewinne machen wollen.
Derzeit steht im Land eine »Krankenhausreform« bevor, durch das »Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz«. Sie soll die medizinische Versorgung kostengünstiger machen, indem Hunderte von kleineren Stadt- und Kreiskrankenhäusern geschlossen werden. Diese sogenannte Reform baut Luftschlösser mit bedrohlichen realen Folgen.
Soziale Einrichtungen haben nach Plan ausreichend Personal: zum Beispiel Altenheime für soundso viele Alte eine bestimmte Zahl von Pflegekräften. Aber der schöne Plan hat oft nichts mit der Realität zu tun, vorgesehene Stellen sind nicht besetzt, bei Urlaub oder Krankheit von Beschäftigten springt niemand zur Vertretung ein, die Anwesenden arbeiten bis zur Erschöpfung und die Alten, Kinder oder Kranken bekommen nicht, was sie brauchen.
Ähnlich ideal, aber realitätsfern sind die Fahrpläne der Bahn und anderer Verkehrsunternehmen sowie die Schadstoff- und Verbrauchsangaben der Automobilkonzerne.
Modern sein wollen viele, und von zahlreichen Produkten und Konzepten wird behauptet, dass sie modern seien. Autos mit Verbrennungsmotoren sind allerdings seit über hundert Jahren nur noch so modern wie ein mobiles Lagerfeuer. Überhaupt ist die Nutzung fossiler Energien wie Flüssiggas aus den USA auch mit »modernen« Kraftwerken längst Sauriertechnologie. Die Digitalisierung ist tatsächlich so modern, dass sie viele Menschen immer wieder vor Rätsel und Probleme stellt. Sie macht menschliche Fähigkeiten überflüssig, öffnet künstliche Welten, ersetzt Begegnungen und echte Erlebnisse.
Der Wissenschaft vertrauen ist üblich. Auch sonst kritische Leute glauben, dass es in ihr nur um Fakten geht. Dabei wird nicht beachtet, dass die Wissenschaft mit Theorien arbeitet, die zwar wahrscheinlich, aber nicht bewiesen sind und teils irgendwann korrigiert werden müssen. Forschungsergebnisse sind verschieden interpretierbar. Da Irren menschlich ist, kommt es auch in der Wissenschaft vor. Zudem hängen die Ziele der Forschung von wirtschaftlichen und politischen Interessen ab: Eine Untersuchung, die nicht finanziert wird, findet nicht statt. So ist das Wissen eingeschränkt. Gutachten von Fachleuten zum selben Thema widersprechen einander sogar oft, je nachdem wer sie in Auftrag gegeben hat. Und mit den beliebten Statistiken und Schaubildern lässt sich fast alles behaupten.
»Illusionen empfehlen sich dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen.«
Sigmund Freud
Illusionen über die Demokratie betreffen entscheidend das Zusammenleben und die Zukunft. Die gängige Ansicht in Deutschland und anderen Ländern ist, dass die Demokratie sich bewährt hat und nur gegen offene Feinde verteidigt werden muss. Dabei wird nicht gesehen, dass die Formen der Demokratie noch auf dem Stand vor etwa hundert Jahren sind, dass sie nicht weiterentwickelt wurde, um die Bedürfnisse und Ansprüche in der seither sehr veränderten Welt zu erfüllen. Regierungen haben weiterhin ähnliche Macht wie alte Monarchien, Regierende und Parlamentsmitglieder stehen im Dienst noch mächtigerer Lobbys, während die Bürgerinnen und Bürger normalerweise über keines der wichtigen politischen Themen mitbestimmen können. Wenn solche Erfahrungen der Ohnmacht dazu veranlassen, die vorhandene Demokratie geringzuschätzen, sollte dies nicht verwundern.
Das 75-jährige deutsche Grundgesetz wird viel gerühmt, jedoch steht einiges darin nur auf dem Papier und ist bis heute nicht Realität geworden. So verhält es sich auch zunehmend bei neuen vielversprechenden Gesetzen wie für das Klima, an die sich der Staat selbst nicht hält. Der letzte Koalitionsvertrag der Bundesregierung war ein ähnliches Dokument, das eher die Bevölkerung beeindrucken als in die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte.
Eine der folgenschwersten Selbsttäuschungen ist, dass Frieden mit Krieg hergestellt werden könnte. Die Vorstellung, dass Gewalt Probleme lösen würde, stammt aus der Steinzeit. Stattdessen verursacht Gewalt weitere Gewalt und immer mehr Schäden. Dabei wird die Menschenwürde selbst zur absurden Illusion, wenn sie mit Töten und Zerstören geschützt werden soll. Die nicht endenden derzeitigen Kriege zeigen all dies. Dennoch will ein Grossteil der Menschen, auch beeinflusst von interessengeleiteter Propaganda, es nicht erkennen. Frieden und die erwünschte Sicherheit werden nicht mit Feindschaft, sondern nur mit Zusammenarbeit erreicht.
Eine andere falsche Vorstellung ist die Hoffnung, dass etwas besser wird, sobald ein Pseudoproblem gelöst ist. Dabei handelt es sich um ein Problem, das keines sein müsste und wirkliche Probleme verdeckt. Die Migration ist ein solches Scheinproblem. Es gibt sie schon immer, und sie wird gefördert in der modernen Welt mit ihrer Mobilität, ihren Kommunikationsmitteln und der Angleichung der Lebensweisen. Menschen aus reichen Ländern können sich fast überall niederlassen, Menschen aus armen Ländern wird dies meistens verwehrt, wenn sie nicht für bestimmte Arbeit gebraucht werden. Einheimische vermuten, dass die Zuwandernden ihnen etwas wegnehmen, womöglich kriminell sind. Aber in einem reichen Land ist für alle genug da, und das eigentliche Problem sind die enormen Wohlstandsunterschiede hier: die soziale Ungerechtigkeit, die ganze Regionen benachteiligt, durch Mangel an Arbeitsplätzen, Infrastruktur, medizinischen Leistungen, Schulen und Ausbildungsstätten, Kulturangeboten.
Es geht immer wieder um die Wahrheit. Menschen wollen Bescheid wissen, um sich sicher zu fühlen. Aber es ist schwierig, Wahrheit und Meinung auseinanderzuhalten. Meinungen sind nicht sicher, sie sind Ansichten, Denkmöglichkeiten, Versuche der Annäherung an eine Wahrheit. Manchmal sind sie Illusionen, entstanden teils aus Ängsten oder Überforderung, auch aus dem Bedürfnis einer »heilen Welt«. Im eigenen Interesse sollten sie selbstkritisch oder im Gespräch geprüft werden: Ist meine Meinung richtig?
Matthias Kunstmann / maximil
[Dazu:
Es könnte alles so schön sein …
Wozu Wissenschaft nützt
Gemeinsamkeit nützt allen]
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