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Zu Bewusstsein kommen

31. Mai 2024

Wir und die Künstliche Intelligenz

Ein Mensch lebt in einem abgeschlossenen Raum, den er niemals verlässt und den niemand anderes betritt. Er bezieht sein Wissen nur aus Büchern, anderen Texten und Bildern, die auch bewegt sein können wie das, was er durch ein Fenster sieht. Er ernährt sich rein durch Infusionen. Sein Körper funktioniert auf Dauer gleich. Dieser Mensch hat Erinnerungen, aber keine Gefühle, keine Wünsche oder Erwartungen. Immer wieder erhält er schriftliche oder fernmündliche Anfragen und versucht sie zu beantworten.

Dem könnte die derzeitige Künstliche Intelligenz gleichkommen.

Solche Vergleiche sind oft zu Recht umstritten, weil sie wichtige Komponenten eines Problems nicht treffen. Der Mensch dieses Beispiels kann ein Bewusstsein haben, indem er sich über seine Welt freiwillig eigene Gedanken macht. Eine ähnliche mit Künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattete Maschine kann vermutlich die Aufgabe erfüllen, den Erfolg ihrer Dialoge, in denen sie Antworten auf Fragen von aussen gibt, zu bewerten und bei Bedarf sodann anders zu reagieren. Eine derartige spezielle Fähigkeit liesse sich nur als ein Anzeichen von Bewusstsein deuten.

Es ist aber klar, dass Menschen unter Bewusstsein etwas viel weiter Reichendes verstehen. Dazu gehört ein Leben, wie es weder die Maschine noch der besagte Mensch in seiner Klause erfahren: die Nähe anderer Lebewesen, der vielfältige Umgang und Beziehungen mit ihnen, Bewegung in der Welt, verschiedenste Empfindungen, Gefühle und Wahrnehmungen, das Spüren des eigenen Organismus zwischen anderen, Wille, Interessen und Ambitionen, ebenso Konflikte und Auseinandersetzungen. All das muss noch nicht bewusst sein, kann jedoch das Bewusstsein äusserst bereichern.

Der Mensch und seine Verbindungen mit dem Kosmos, die bewusst werden können -
dargestellt von Robert Fludd, 1619

Erleben oder Lebensgefühl mit Bewusstsein gleichzusetzen, verfehlt dessen Besonderheit. Zwischen nicht bewusstem und bewusstem Erleben besteht ein Unterschied, entsprechend ebenso bei Lieben, Hassen, Leiden oder Wollen. Oft entspringt dies aus einfachen und unkontrollierten Trieben, Bedürfnissen oder Emotionen.

Beim Denken wird Bewusstsein tätig - Wissen, Intelligenz in ihren verschiedenen Formen, Sprache kommen noch ohne Bewusstsein aus, soweit sie spontan, reflexhaft oder gewohnheitsmässig angeeignet und gelernt werden. Entscheidend für Bewusstsein ist offenbar, dass »ich« erlebe, wahrnehme, mich erinnere, »eigene« Gedanken und Pläne entwickle, dass es nicht mehr geschieht, sondern dass eine Person der Welt gegenübersteht und »selbst« aktiv ist. Wissen wird überprüft und von Irrtum oder Glauben unterschieden. Unbewusst entstehende Träume lassen sich im Nachhinein bewusst betrachten. »Bewusstsein ist Beziehung des Ich auf einen inneren oder äusseren Gegenstand«, definierte schlicht und treffend das Brockhaus-Lexikon.

Selbstbewusstheit, Nachdenken über sich selbst, Selbstkritik gehen über bewusstes Erleben hinaus. Wenn ich im Hier und Jetzt bin, ganz dabei, ist womöglich schon eine Art Erleuchtung erreicht.

Für Bewusstsein gibt es Anzeichen, durch die eine bewusst beobachtende Person es bei anderen erkennen kann. Sprachlichen Äusserungen lässt sich entnehmen, ob jemand nur konventionell redet oder individuelle Gedanken ausspricht. Diese zeigen sich besonders im Dialog. Einfühlung, Empathie, Intuition helfen zum Verständnis dessen, was das Gegenüber meint. Persönliche Erinnerungen, begründete Argumente und Urteile, eigenwillige Vorhaben und vor allem Selbstreflexion weisen umso deutlicher auf Bewusstsein hin.

Dabei ist fraglich, ob Imitiation oder Nachahmung grundsätzlich gegen Bewusstsein spricht. Lebewesen lernen zu einem grossen Teil, indem sie Eigenarten und Verhalten anderer nachahmen. Einübendes Nachvollziehen stellt Voraussetzungen für Bewusstheit her und bestimmt wahrscheinlich auch deren Anfänge, Vorgehen und Entwicklung, etwa bei Meditationsweisen. Nur wenige Menschen schaffen es, besonders originell zu sein. Dennoch sind auch sozial mehr Angepasste bewusst, vielleicht zeitweise und in manchen Bereichen. Simuliertes Bewusstsein lässt sich als Täuschung erkennen, Imitationen sind dagegen, falls Kriterien für Bewusstsein zutreffen, wohl ernstzunehmen.

KI kann immer mehr. Sie soll nützen und wird für die Menschen zur Konkurrenz. Wir sollten uns nicht auf sie verlassen - wir sollten selbst bewusst sein.

Matthias Kunstmann

[Dazu:
Menschen schaffen sich ab]

Themen: Allgemein · Kultur

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