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Wozu Wissenschaft nützt

21. März 2019

Die Welt ist nicht einfach zu verstehen, und was die Menschen darin bewegt, mindestens ebenso wenig. Wer es wissen will, wird Fragen über Fragen haben, wird beobachten, lesen und nachdenken, Informationen mit eigenem Vorwissen vergleichen und sich nach und nach ein Bild machen. Dieses Bild sollte nicht fest stehen wie ein Vorurteil, sondern sich durch neue Erkenntnisse verändern. So sind lernfähige Menschen im Alltag wissenschaftlich tätig, um sich besser auszukennen.

flammarion

Ein Mensch auf der Suche nach Erkenntnis schaut am Ende der Erde auf die andere Seite des Himmelsgewölbes. Die Darstellung aus dem 19. Jahrhundert ist wahrscheinlich eine Parodie auf alte Weltbilder.

Da Wissen Macht ist, wird Wissenschaft auch missbraucht. Mit wissenschaftlichem Anspruch haben Lungenärzte behauptet, dass Schadstoffe in Autoabgasen nicht gesundheitsschädlich seien. Medien haben dies verbreitet und der untätige Bundesverkehrsminister hat sich damit bestätigt gesehen. Es war, wie sich herausstellte, eine gezielte Lobby-Aktion der deutschen Autoindustrie. Ergebnisse der Wissenschaft können verschieden interpretiert werden, sie werden in ihrem Zusammenhang erfasst oder aus demselben gerissen, sie werden ernst genommen oder übergangen, und beliebige Folgerungen werden immer wieder benutzt, um Interessen durchzusetzen.

Solange ein Zusammenhang oder eine vermutete Wirkung nicht nachgewiesen wird, folgern sogenannte Experten oft, dass es den Zusammenhang oder die Wirkung nicht gibt - damit geben sie ihr begrenztes Wissen als die Wahrheit aus. Wenn Untersuchungen nichts finden, kann es aber auch an wissenschaftlicher Unfähigkeit oder eben menschlicher Dummheit liegen.

Erkenntnisse auszuwerten, dazu bietet die Wissenschaft, wie sie seit einiger Zeit an Hochschulen, Instituten und anderen Forschungseinrichtungen betrieben wird, viel Anlässe und Gelegenheiten. Einige dieser Einrichtungen sind privat organisiert und auf entsprechende Zwecke gerichtet, sie werden dennoch häufig staatlich gefördert. Die öffentlichen Hochschulen haben sich ihrerseits immer mehr auf die praktische Anwendung der Forschung orientiert. Solche Anwendungen sind oft nicht im allgemeinen Interesse, sondern nutzen in erster Linie Wirtschaftsunternehmen.

Was die Menschheit mit den Forschungsergebnissen anfangen kann, ist eine berechtigte Frage an die wissenschaftlich Tätigen, die von der Allgemeinheit bezahlt werden. Ein Teil der Einzelwissenschaften konnte darauf von Anfang an grundsätzlich antworten, so die Medizin, die Architektur, die Rechtswissenschaft, die Pädagogik. Die Aktiven anderer Disziplinen, besonders in den Geisteswissenschaften sowie in der Grundlagenforschung der Naturwissenschaften, haben früher selbstbewusst erklärt, vor allem zur Bildung beizutragen. Je weniger es aber um Bildung der Persönlichkeit und je mehr es stattdessen um berufliche Ausbildung und sonstige Verwertbarkeit geht, umso mehr sehen sie sich gefordert, neue, vorzugsweise wirtschaftliche Begründungen zu präsentieren. Doch gerade in anerkannt nützlichen Fächern wie der Medizin oder der Pharmazie werden Forschende vielfach ihrer Verantwortung nicht gerecht.

Ein Kaffeehandelsunternehmen gab bei einer Hochschule eine Studie in Auftrag, deren Ergebnis dann das Wissenschaftsministerium verkündete: Kaffee sei gesund - eine so pauschal völlig unwissenschaftliche Aussage. Wieder einmal liess die Regierung selbst sich von einer kleinen Interessengruppe instrumentalisieren. Ganz offiziell, aber wenig transparent finanzieren Wirtschaftsunternehmen staatliche Hochschulen mit und kaufen sich so Fachleute und ganze Lehrstühle. Sie bekommen die Studien und Gutachten, die sie brauchen. Sodann können sie auf die damit möglich gewordenen Entwicklungen Patente erwerben und allein davon profitieren.

“Die Wissenschaft bedroht den Menschen damit, ihn zu ungeahnten Exzessen der Niedrigkeit zu verleiten (…), weil die wissenschaftlichen Lehrsätze, Sätze im Indikativ, auf willkürliche und geschickte Weise zu Sätzen im Imperativ werden können, wenn das Ansehen der Wissenschaft wächst. Jeder beliebige Sachverhalt widerlegt oder rechtfertigt so jede beliebige Norm.”
Nicolás Gómez Dávila

Die Freiheit der Wissenschaft steht in der Verfassung. Die öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen sind aber nicht zur Selbstbedienung von Unternehmen oder geschäftstüchtigem akademischem Personal da. Sie sollen in einer Demokratie Themen des Allgemeinwohls aufnehmen. Unabhängige Forschungen zu Gesundheit, Ökologie, Frieden, Gerechtigkeit sind derzeit vernachlässigt.

In der Zeit der Antike sollte Wissenschaft zur Ethik, zum guten Leben führen. Für das Christentum war die Wissenschaft ein Weg zum Staunen und zum Wertschätzen der Schöpfung. Die moderne Wissenschaft hat die Religion bestritten und zurückgedrängt. Dabei ist sie auch ideologisch und selbst eine Art Religion geworden, als wüsste sie allein die letzte Wahrheit und hätte die Mittel zum Heil der Welt. Viele glauben ihr das. Dabei verfügt die Wissenschaft nur über das Wissen ihrer Zeit, ihr Denken folgt Moden und gelangt in vielem nicht weiter als bis zu Hypothesen. Solche unbewiesenen Annahmen werden leicht zur gängigen Weltanschauung. Ausgerechnet die Wirtschaftswissenschaft ist - was unter den darin Tätigen kaum jemand zugesteht - ähnlich spekulativ wie die Theologie.

Wenn die Wissenschaft wertfrei arbeitet, wird das als Vorzug angesehen, aber trotzdem ist es oft nicht der Fall und über die jeweiligen Werte wird nur nicht gesprochen. Es wäre besser, wenn sie entschieden von humanen Werten ausgehen würde.

“Ein Ende der Vergötzung von Vernunft und Wissenschaft wäre der Anfang eines neuen Wissens: dass nur die Umkehr der Herzen und eine neue Verantwortung uns weiterhelfen können.”
Franz Alt

Die wissenschaftlich Tätigen sollten immer über ihre Arbeit hinaussehen können: die gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Zusammenhänge und Bedeutungen erkennen, verstehen und beachten. Und das interessierte Publikum sollte auch gegenüber der Wissenschaft kritisch sein, den Fachleuten nicht einfach glauben, vielmehr “hinterfragen”. Das Wort kam in einer kritischen Zeit auf und wird inzwischen kaum noch gebraucht, hat aber weiter einen Sinn, im Umgang mit Wissenschaft wie mit Medien - selber denken! Die Erkenntnis kommt aus vielen Quellen.

Matthias Kunstmann / maximil

> “Die gekaufte Wissenschaft”, Die Zeit 1.8.2013

Themen: Allgemein · Kultur · Natur · Politik

1 Kommentar bis jetzt ↓

  • 1 Claire Destinée // 5. August 2020, 14:52 Uhr

    Was ist “der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren Illusionen: ‘Weg zum wahren Sein’, ‘Weg zur wahren Kunst’, ‘Weg zur wahren Natur’, ‘Weg zum wahren Gott’, ‘Weg zum wahren Glück’ versunken sind?”, fragte der Soziologe Max Weber 1917. Er fuhr fort: “Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: ‘Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben? keine Antwort gibt.’”

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