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Menschen schaffen sich ab

22. Februar 2018

Bereichert es das Leben oder behindert es mehr? Das ist die Frage bei vielen Geräten, die Menschen sich anschaffen, Fahrzeugen, Werkzeugen, Maschinen für den Haushalt, Elektronik zur Unterhaltung, Rechnern und Robotern für alles Mögliche. Teils sind solche technischen Dinge praktisch und nehmen lästige Arbeit ab. Oft sind sie einfach bequem. Oder sie sind etwas zum Spielen. Vermehrt ist aber Schlimmeres zu beobachten: Produkte ersetzen wichtige menschliche Tätigkeiten, machen Fähigkeiten überflüssig, schwächen die Eigenständigkeit - sie sind Prothesen.

Als Hilfsmittel zur Bewegung wurden lange Zeit Schiff, Pferd und Kutsche genutzt, aber nur ausnahmsweise. Zu Fuss gehen war auch über weite Strecken noch in den letzten Jahrhunderten üblich, und Handwerker, Pilger, Künstler, Kaufleute reisten so durch Europa. Mit dem Auto, besonders den billigen Modellen für viele, wurde das individuelle Fahren zur Gewohnheit. Inzwischen wird der Motor für kürzeste Wege angelassen, für jeden Einkauf ausser vielleicht beim Bäcker, und Eltern chauffieren ihre Kinder zur Schule, um sie vor den Risiken des Strassenverkehrs zu schützen. “Automobil” bedeutet “selbstbeweglich”, die Insassen sind dies immer weniger. Damit sind sie auch immer weniger frei. Wenn die selbstfahrenden Autos kommen, sodass auch niemand mehr steuern muss, wird es genügen, einen solchen komfortablen und schnellen Rollstuhl wörtlich zu “besitzen”.

Schon vorher übernehmen Navis auch beim Radfahren und Wandern die Führung. Sie sind ungefähr wie ein Blindenhund, der sprechen kann, für Menschen, die nicht sehen wollen. Dabei können diese aktiven Wegweiser je nach Eingabe und andersartiger Wirklichkeit bekanntlich auch in die Irre führen. Meistens verhindern sie, dass ihre Nutzer und Nutzerinnen die Umgebung wahrnehmen und die Fähigkeit üben, sich in der Welt zurechtzufinden. Ohne Hilfe geht es dann nicht mehr. Wer es nicht gelernt hat, kann eine Situation in der Stadt oder in der Natur nicht selbst beurteilen. Entsprechend lässt sich immer häufiger feststellen: Es fehlt die Orientierung im Leben - eigene Grundsätze, kritisches Denken und Einschätzungsvermögen sind nicht ausgebildet, und die Verunsicherten fühlen sich privat, beruflich oder politisch auf Meinungen und Vorgaben von aussen angewiesen.


Charlie Chaplin in seinem Film “Modern Times”, 1936

Werkzeuge erleichtern die Arbeit, Maschinen leisten mehr, als Menschen können, und die freuen sich, die Technik gewinnbringend im Griff zu haben. Die Technik wird aber oft zum Sachzwang. Eine Klimaanlage ist vielleicht angenehm, dafür lassen sich die Fenster nicht mehr öffnen, und dies ist besonders unangenehm, wenn die Lüftung ausfällt und es drin stickig wird. Für die globale Aufheizung des Klimas genügt der reguläre massenhafte Betrieb von fossilen Kraftwerken und Motoren. Technik gerät überdies immer mal wieder katastrophal ausser Kontrolle, wie bei Verkehrsunfällen und im Fall der Atomkraft.

Als um das Jahr 1800 erstmals reihenweise Maschinen installiert wurden, vor allem in der Textilfabrikation, in der sie die Handwebstühle mitsamt den Arbeitern und Arbeiterinnen ersetzten, da rebellierten viele der Betroffenen gegen die Technik: Ihnen raubte diese die Beschäftigung, von der sie und ihre Familien lebten. Seither hat die industrielle Produktion fast überall das Handwerk zurückgedrängt und praktische gestalterische Kenntnisse, die über Jahrhunderte gesammelt worden waren, mit ebenso lang weitervermittelten Fähigkeiten zum Verschwinden gebracht. Manche der neuen technischen Geräte sind absurd und lächerlich, wie die Laubbläser, die schwerer zu handhaben sind als ein Rechen oder Besen und dazu einen Ohrenschutz wegen ihres Krachs, wenn nicht noch wegen der Abgase einen Atemschutz erfordern …


Weberhaus in Augsburg, Fassadenmalerei von Otto Michael Schmitt, 1961 -
Foto: Anja Mößbauer

Fernsehen, Kino und Internet als Unterhaltungsmedien sind für einen großen Teil der Menschheit nicht nur Sehhilfen, sondern Ersatz für eigenes Erleben. Geschützt, aber ohne die Vielfalt persönlicher Begegnung, bewegungslos und sprachlos lässt sich so die Welt nach Wunsch anschauen. Die Mutigen wagen sich hinaus und setzen eine Brille auf, mit der sie angeblich mehr sehen als die anderen (”erweiterte Realität”), die allerdings auch den Horizont verengt und an die Redensart vom Brett vor dem Kopf erinnert. Diverses technisches Spielzeug für Kinder und Erwachsene schränkt Handlungsmöglichkeiten, Fantasie und Kreativität ein, statt sie zu fördern.


Datenbrille - Foto: Avery Miller, Ausschnitt, Lizenz CC BY-SA 4.0

Kommunikationsprothesen werden günstigerweise schon in jungem Alter dauernd getragen, damit sie ein selbstverständliches Organ des Körpers werden. Mit den kleinen Wunderwerken am Arm, die sehen, hören, reden, funken und jede Menge bunte Bilder zeigen können, bieten sich auch unter Leuten im nächsten Umkreis witzige Gespräche mit vielen Emoticons und Piktogrammen an. Die Mensch-Maschine-Schnittstelle hat sich hier weit in den menschlichen Bereich hinein verlagert.

Die Rechner mit ihren Programmen und Vernetzungen verarbeiten Informationen, haben ein Gedächtnis, schlussfolgern, sie denken, organisieren, bewerten und wissen von den Menschen, die mit ihnen zu tun haben, oft mehr als diese selbst. Individuell eignen sie sich daher als Hirnprothesen. Insgesamt sind sie eine Macht, die das menschliche Leben beeinflusst, auch auf dem Bauernhof, im Krankenhaus und übermässig an der Börse. Die Menschen vor den grossen und kleinen Bildschirmen lassen sich immer mehr von den künstlichen Gehirnen leiten, arbeiten ihnen zu, reagieren, statt selbst zu handeln, tun, was von ihnen erwartet wird, werden auf einfache und immer gleiche Funktionen reduziert. Damit übernehmen Menschen wieder die Aufgaben, die einmal den Maschinen zugedacht waren. Sie werden von ihnen abhängig. Die Entfremdung von sich selbst zeigt sich in besonderer Weise in den physiologischen Uhren: Sie messen Körperwerte und leiten aus der Analyse Ratschläge für die Lebensweise ab, simulieren damit ein Bewusstsein des Organismus, das ihr Träger oder ihre Trägerin verloren hat.

Wie die digitalen Maschinen imstande sind zu lernen, treten sie immer häufiger als intelligente menschenähnliche Wesen auf. Roboter sollen bald alte Menschen pflegen, weil billige menschliche Pflegekräfte fehlen. Hilfsbedürftige sagen, dass sie nichts dagegen hätten. Aber das würde für die Menschen bedeuten, Zuwendung mit allem, was ihnen darin möglich ist, aufzugeben. Noch mehr ist machbar und auch schon entwickelt. Für Lebenspartnerschaften stellen wissende Algorithmen die passenden Paare zusammen. Zu einer bestimmten Person, die für die Liebe oder das Geschäft infrage kommt, errechnet die Maschine aus dem Aussehen, Mimik, Gestik, Kleidung, sonstigem Verhalten und weiteren verfügbaren Daten etwa von Internetplattformen ein Persönlichkeitsprofil und sämtliche Optionen. Menschen können dann auf Menschenkenntnis, Empathie, Intuition und ihre fehlbaren Gefühle verzichten. Wird es so weit gehen wie in dem prophetischen Film “Blade Runner”, in dem Androiden menschlicher sind als Menschen …?

Es bleibt möglich, dass Menschen andere achten, das volle Leben schätzen und selbst etwas schaffen.

Matthias Kunstmann / maximil

“Blade Runner”, Regie Ridley Scott, USA 1982
(der Film spielt Ende 2019)

[Dazu:
Vor dem Bildschirm
Alle gewinnen mit Empathie]

Themen: Allgemein · Kultur · Natur · Politik

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