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Geschichte von einem Einsiedler (Le chant de l’hermite)

17. Juli 2010

Ich habe von einem Einsiedler gehört, ich weiss nicht, ob er vor langer Zeit gelebt hat oder ob er noch lebt. Der Einsiedler siedelte also einzeln, allein, das heisst er wohnte irgendwo möglichst weit weg von anderen Menschen, in einer einsamen Gegend, wo gibt es so eine heute noch? Wahrscheinlich liebte er die Natur. Er lebte da, um das Leben zu spüren - vermute ich.

Es gibt aber auch Einsiedler und Einsiedlerinnen, die Wand an Wand mit anderen Menschen wohnen, zu denen sie keine Beziehungen haben. Manche Einzelkinder leben schon so, allein vor einem Bildschirm, der ein Tor ist, das weit offen vor einer geheimnisvollen Welt zu sein scheint, aber das täuscht leider. Aus Sicherheitsgründen werden Zugänge gesperrt, und es nützt dir nichts, wenn du sie umgehst, du verirrst dich und es drohen Fallen.

Früher waren Einsiedler oft religiös. Sie wollten wissen oder fühlen, was wichtig ist: Kosmos, Gott, das Leben. Darüber lässt sich aber schwer etwas Eindeutiges sagen.

Der Einsiedler, von dem ich erzählen will, hatte sich vorgenommen, jeden Tag etwas aufzuschreiben, was ihm gefallen hat. Wenn ihm das Essen geschmeckt hat, schrieb er darüber am Abend in ein Buch mit anfangs leeren Seiten, und er versuchte auch, den Geschmack und seine Empfindungen zu beschreiben. Wenn er etwas Neues gelernt oder erfahren hat, schrieb er es auf. Oder er hat an einem langen Sommerabend geglaubt, dass die Zeit still steht und es gut ist so - dann hat er das in Worte gefasst und mit Tintenstift aufs Papier gebracht. Er wollte das Wohltuende dokumentieren und damit festhalten, denn er dachte, er würde es einmal wieder brauchen können, oder jemand sonst. Er fühlte sich wohl dabei.

An einem Abend wollte er gerade eine Musik beschreiben, die ihn begeistert hatte, da ging ihm die Tinte aus. Er hatte keine andere Mine mehr im Haus, auch keinen anderen Stift und keine Tastatur. Der nächste Schreibwarenladen war Kilometer weit entfernt und ausserdem schon zu. Nachbarn gab es nicht. Der Einsiedler war beunruhigt.

Würde sein Musikerlebnis nun sang- und klanglos verschwinden? War diese Blockade nicht sogar ärgerlich? Vielleicht sollte er das, was er schreiben wollte, wenigstens aussprechen - so würde der Schall seiner Worte in die Atmosphäre, die Natur, die Welt hinein wirken. Das wäre allerdings kaum nachvollziehbar, überlegte er kritisch, aber womöglich direkter und dynamischer als ruhende Schriftzeichen. Und es entsprach den Klängen, die der Anlass seines Formulierens gewesen waren.

So sprach er sein Lob der Musik durch ein geöffnetes Fenster in die nur von einem leichten Wind bewegte Abendluft, deutlich, etwas ins Singen kommend, und schliesslich schien der Horizont der Hügel leise zu schwingen.

Als der Einsiedler sich schlafen legte, spürte er Zweifel. Das Gesprochene akustisch aufzeichnen, das wäre schon sicherer. Er hatte dafür kein Gerät, nicht einmal ein Telefon, mit dem er seinen Text auf einen Anrufbeantworter hätte sprechen können.

Am nächsten Tag verliess der Einsiedler sein Haus in den Hügeln und ging auf eine Reise, um eine alte Freundin zu besuchen und ihr zu sagen, was ihm wichtig war.

Jedenfalls habe ich die Geschichte so verstanden.

Claire Destinée

Themen: Allgemein · Kultur · Natur

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