Menschen leiden unter ihrem Seelenzustand.
Wenn er wechselt, wird die Stimmung wieder besser.
Wenn er übermässig schmerzt, ist der Mensch psychisch krank.
Sobald die Krankheit das Zusammenleben mit anderen Menschen stört, schmerzt sie mehr.
In vielen Fällen ist die Seele belastet, weil zwischen Menschen etwas nicht stimmt.
Die sogenannten Verrückten gehörten in früheren Jahrhunderten zu den Lebensgemeinschaften der europäischen Dörfer und Städte. Es ist wünschenswert, miteinander auszukommen, das erleichtert das Dasein. Trotzdem ergeben sich Konflikte, Streit und Nervereien, aus den verschiedensten Ursachen. Ob jemand aus einer Krankheit heraus, durch seinen Charakter, aus bewusster Absicht oder aus anderen Gründen die Mitmenschen belästigt, das nehmen die vielleicht wahr, es macht für sie aber kaum einen Unterschied; oft genug unterstellen sie dem oder der anderen etwas und erkennen nicht, dass sie selbst den Anlass für Ärger geboten haben. Wie auch immer, die Gemeinschaft versucht, den Konflikt irgendwie zu regeln.
Was verrückt ist und was normal, ist zu allen Zeiten eine Ansichtssache gewesen. Die jeweilige Mehrheit hat es bestimmt oder geglaubt. Solche Grenzziehungen sollen in der Nachbarschaft gelten und ebenso in der grossen Politik.
Seit etwa dem Jahr 1800 hat idealistisches und wissenschaftliches Interesse dazu geführt, psychisch Leidenden gezielt zu helfen. Zugleich wurden solche auffälligen Menschen immer genauer definiert und in speziellen Anstalten von der Allgemeinheit abgesondert. Bis heute kann in Deutschland und vielen anderen Ländern ein Insasse der Psychiatrie weniger Aussichten haben als ein zurechnungsfähiger Strafgefangener, wieder in Freiheit zu leben.
Human geplant und organisiert, aber in der Praxis brutal und die Krankheit verschlimmernd, jedenfalls eine eigene Welt, in der die Patienten und Patientinnen unter sich waren und am Leben der Gesellschaft nicht teilnehmen konnten, das war auch das Ospedale psichiatrico San Giovanni, eine Gebäudegruppe mit Grünflächen an einem Berg über der italienischen Hafenstadt Triest. Ungefähr 1200 Kranke waren dort in den 1970er-Jahren hinter Mauern und Gittern untergebracht, als derartige Einrichtungen vielerorts immer mehr in die Kritik gerieten. Es wurde bewusst, dass sie die Menschenwürde verletzten. Der Psychiater Franco Basaglia, der diese Erkenntnis aus seinen Erfahrungen vertrat, wurde damals der Leiter der Anstalt.
Zunächst öffnete er die Abteilungen. Insassen und Personal kamen gemeinschaftlich ins Gespräch, psychiatrisch und pflegerisch Tätige bekannten sich zu dem, was sie mit den klinisch Leidenden verbindet, miteinander veranstalteten sie Kulturereignisse. Um zusammen neue Perspektiven zu gestalten, wurden der Schriftsteller und Regisseur Giuliano Scabia und der Bildkünstler Vittorio Basaglia, ein Vetter des Psychiaters, in das Ospedale eingeladen.
Mitbewohner der Anstalt war ein alt gewordenes Pferd, das auf einem Karren die Wäsche über das Gelände transportierte. Für viele war es ein Freund. Die zuständige Behörde kündigte an, es werde durch ein Motorfahrzeug ersetzt und in den Schlachthof gebracht. Die betroffenen Menschen zeigten daraufhin auch ausserhalb der Anstaltsgrenzen, was sie wollten: In einem Schreiben an das Amt forderten sie, das Pferd leben zu lassen. Sie hatten Erfolg, ihm wurde zur Rente ein städtischer Stallplatz gewährt.
Dies war der Anlass dafür, dass die Künstler mit den Patientinnen und Patienten von San Giovanni ein überlebensgrosses Pferd aus Holzkisten und Pappmaché schufen, es blau bemalten und Marco Cavallo nannten, das Pferd Marco. Es wurde ein Symbol, für die Kräfte der Schwachen, die Eigenart, die Gemeinsamkeit, die Sehnsucht, das Leben.
Und schliesslich für das Freisein. Dies entwickelte sich in Meditationen, Gedichten, Geschichten, Liedern, Bildern, Inszenierungen rund um das blaue Pferd. An einem Frühlingstag 1973 zogen die Menschen mit Marco Cavallo aus der Anstalt hinaus in die Stadt. Sie brachen die obere Begrenzung eines Zauntores ab, damit sie hindurchkamen. Mit vielen Menschen von draussen ging der Zug durch die Strassen von Triest zu einem Platz, auf dem sie miteinander feierten, bei Musik und Tanz.
Das italienische Parlament beschloss fünf Jahre später ein Gesetz, das die psychiatrischen Kliniken auflöste. Menschen mit psychischen Leiden sollen seither als anerkannte Mitglieder der Gesellschaft leben können, in ihren Familien oder eigenständig, und dabei von Fachkräften unterstützt werden, die ihnen Rat, Therapie und den jederzeitigen Zugang zu ambulanten Diensten oder Treffen bieten: offene Türen, Inklusion und Empathie. In der Realität bestehen da weiter Defizite. Aber diese Psychiatrie erscheint in Italien als grundsätzlich richtig.
Mit seiner Botschaft ist Marco Cavallo über das Land hinaus in Europa unterwegs gewesen. In Deutschland hat er das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten aufgegriffen, Esel, Hund, Katze und Hahn, deren Existenz in fortgeschrittenem Alter bedroht ist, worauf sie optimistisch aufbrechen, um gemeinsam eine gute Zeit zu erleben. Eine Initiative am anderen Ende des Kontinents, in der Hafenstadt Bremen, hat dann ein schwimmendes blaues Kamel entstehen lassen, auch dieses eine zeichenhafte Figur für das Überschreiten von Grenzen und Ausgrenzungen, für Vielfalt und für die Möglichkeiten des Zusammenlebens.
In Triest ist die frühere Anstalt San Giovanni heute ein offenes Gelände, in den Gebäuden forscht und lehrt die Universität, arbeitet das Stadttheater, sind auch Räumlichkeiten des Dienstes für geistige Gesundheit. Es ist beschlossen worden, dass das blaue Pferd Marco als Denkmal einen Platz in der Stadt bekommt.
Matthias Kunstmann / maximil
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