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Alle gewinnen mit Empathie

22. November 2015

Ungelöste Konflikte? Mangelnde Zusammenarbeit? Misslungene Kommunikation? Vieles ginge besser mit Empathie: wenn Beteiligte sich in ihr Gegenüber hineindenken.

Es ist schon eine lebenslange Aufgabe, sich selbst zu verstehen. Die alte griechische Religion hat den Ratsuchenden am Apollo-Tempel in Delphi und in der Folge der europäischen Kultur empfohlen: Erkenne dich selbst! Zumindest in einzelnen Situationen die eigenen Interessen, Motive und Gründe einigermassen deutlich zu sehen, hilft beim Umgang mit anderen Menschen sehr. Damit wird es leichter, sich verständlich zu machen. Und wenn ähnliche Eigenschaften auch beim Gegenüber zu finden sind, ist es ebenfalls leichter zu verstehen. Beide Seiten können einander näherkommen.

Empathie heisst: Ich kann einen Mitmenschen verstehen, seine Gefühle wahrnehmen, mich in ihn oder sie hineinversetzen. Das geht manchmal spontan, manchmal ist es äusserst schwierig. Dennoch versuche ich es, gerade wenn ich zunächst wenig Gemeinsames sehe. Eine Aussage oder Handlung kann sehr verschieden gemeint sein. Ich bedenke die Umstände, den Hintergrund, den Kontext, frage möglicherweise gezielt nach. Dabei will ich mir mein Bild der oder des anderen nicht wie ein Vorurteil bestätigen lassen, sondern vorsichtig herausfinden, was tatsächlich stimmt. Dann kann ich angemessen reagieren, und es zeigt sich am ehesten, wo wir uns einigen können.

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Ruinen des Apollo-Tempels und des Theaters in Delphi, Griechenland - Foto: F. Harbin, Wikimedia Commons, Lizenz CC-BY-3.0
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In einem Konfliktgespräch wird oft aneinander vorbeigeredet, die Fronten verhärten sich, oder der Streit eskaliert. Um die Chancen für ein Ergebnis zu erhöhen, ist es nützlich, die Argumente der anderen Seite fragend und überprüfend in eigenen Worten wiederzugeben: „Willst du damit sagen, …?“, „Verstehe ich Sie richtig, dass …?“, „Kommt es dir darauf an, …?“ Insbesondere kann es weiterführen, wenn nach den Gefühlen des Gegenübers gefragt wird: „Sind Sie verärgert über …?“, „Fühlst du dich benachteiligt, weil …?“, „Empfindest du als Mangel, dass …?“ Dies entspricht dem gruppendynamischen Konzept des „Kontrollierten Dialogs“.

Ohne Mitgefühl ist in Konflikten das Risiko gross, dass sie in Gewalt ausarten. Wer nur die eigenen Ansprüche, Wünsche und vermeintlichen Rechte kennt, isoliert sich sozial und ist eher bereit zum Beleidigen, Verletzen, schliesslich zu Tätlichkeiten. Immer wenn es weniger dramatisch um Zusammenarbeit geht, beispielsweise unter Kolleginnen und Kollegen, hat fehlendes Mitgefühl Missverständnisse, Störungen und Verweigerung zur Folge, Potenzial wird nicht genutzt. Umso mehr Anlass gibt es zu überlegen, wie Empathie gelernt werden kann.

Empathie ist eine natürliche Eigenschaft. Schon kleine Kinder zeigen sie, sind traurig mit anderen und lachen mit ihnen, wollen dann auch trösten, helfen, teilen. Unwillkürlich wird die Mimik eines Gegenübers nachgeahmt, und damit verbindet sich das entsprechende Gefühl. Das Zusammenleben braucht empathisches Verhalten, unter normalen Bedingungen und besonders in schwierigen Umständen, in Konflikten und Krisen. Tiefenpsychologisch gesehen haben alle Menschen Anteil am kollektiven Unbewussten, das die Gemeinschaft trägt. Während Kräfte wie die aktive Empathie Leben und Entwicklung fördern, wirken dem hemmende und zerstörende Kräfte entgegen.

Ein Kind, das von seinen Eltern oder anderen Bezugspersonen kein Mitgefühl erfährt, das vernachlässigt wird oder Hilflosigkeit erlebt, wird wahrscheinlich wenig empathisch werden. Liebe ist nicht immer mitfühlend, sie kann selbstbezogen sein, doch als kommunikative Zuwendung ist sie vor allem für Kinder das entscheidende Lebensmittel. Wenn die Eltern sie nicht geben können, sollten ihre Kinder Menschen anvertraut werden, die dazu imstande sind. Kitas mit ausreichend Fachkräften, die auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen können, bieten zudem ein Gemeinschaftsleben mit empathiefördernden Erfahrungen. Das ist auch für viele Einzelkinder wichtig. In zahlreichen Fällen wäre es für die Kinder am besten, zusammen mit den Eltern in sozialpädagogisch unterstützten Wohngemeinschaften zu leben. Denn jedem Kind steht das Recht zu, vermittelt zu bekommen, womit es eine beziehungsfähige, in vielfältigem Austausch lebende Persönlichkeit werden kann.

Vorhandene Empathie wird durch Autoritätsgläubigkeit oder Gruppenzwang eingeschränkt, manchmal sogar ausser Kraft gesetzt. Das hat das „Milgram-Experiment“ von US-Wissenschaftlern 1961, das später in Deutschland als „Abraham-Versuch“ nachvollzogen wurde, sehr deutlich gemacht. Ausgehend von Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sollte untersucht werden, wie weit Menschen in bestimmten Situationen gegen ihr Gewissen handeln. Ein Grossteil der darüber nicht informierten Versuchspersonen löste immer stärkere Elektroschocks aus, obwohl Schmerzen und Leiden des Opfers zurückgemeldet wurden – weil der Versuchsleiter das im Namen der Wissenschaft verlangte. In einem Herrschaftsverhältnis fühlen sich die Abhängigen weniger verantwortlich. Festgestellt wurde auch: Je näher der von Gewalt betroffene Mensch ist, desto mehr wirkt beim Handelnden zumeist das Mitgefühl.

Angehörige einer Gruppe haben Sympathien für die anderen Mitglieder aufgrund gemeinsamer Einstellungen, Werte oder Interessen und handeln deshalb solidarisch, müssen aber dabei nicht verständnisvoll oder einfühlsam sein. Stattdessen können sie sich gegen Aussenstehende, „Fremde“, andere Gruppen misstrauisch bis aggressiv verhalten und Feindbilder pflegen. Geboten sind aber Toleranz und Respekt, damit es gelingt, einander zu begegnen und kennenzulernen. Vertrauen ist die Grundlage für konstruktive Beziehungen.

Mitleid ist hilfreich nach der Formel „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“. Es sollte sich nicht unbedacht als Geste von oben herab äussern und damit vor allem dem eigenen Ego dienen. Das mögen beispielsweise Menschen mit Behinderungen nicht. Empathisch ist es, auf Bedürfnisse Benachteiligter einzugehen, wie etwa gleicher Zugang zu Räumen, Rechten und Chancen.

Identifikation mit einem anderen Menschen ist ähnlich wie Anpassung für empathisches Verhalten eher nachteilig, weil dabei der für achtsames und kritisches Wahrnehmen nötige Abstand fehlt. Anderenfalls werden mehr oder weniger bewusst wahrnehmend immer wieder die bisherige Erfahrung und die gewonnene Menschenkenntnis herangezogen.

In der modernen Gesellschaft ist Empathie schwieriger geworden. Das ist verursacht durch die sozialen Veränderungen, die herkömmliche Gemeinschaften wie Partnerschaften von Männern und Frauen, Familien, Nachbarschaften, Belegschaften von Unternehmen lockern und auflösen, wobei sich neue Gemeinschaften weniger verbindlich, flexibler und für kürzere Dauer bilden. Zugleich werden die Menschen individualistischer und entfremden sich dadurch voneinander. Hinzu kommen verstärkter Leistungsdruck und Wettbewerb, die egoistische Einstellungen und Rücksichtslosigkeit begünstigen. Jedoch wird Empathie auch zunehmend als Aufgabe gesehen. Die Sehnsucht nach echter Gemeinschaft bleibt.

Empathie verbessert die Kommunikation. Wie diese wird sie statt zum beiderseitigen Vorteil auch zu manipulativen Zwecken angewendet. Wer andere durchschaut, ihre Motivationen kennt und ihre Reaktionen vorhersieht, kann sie kontrollieren und steuern. Deshalb ist es wichtig, den privaten Bereich zu schützen.

Unternehmen und Regierungen wissen schon viel über uns, durch klassische Marktforschung, Demoskopie und inzwischen vor allem aus den Datenmengen des Internets, und sie verwerten die Informationen in ihrem Sinn. Es ist harmlos, dass die Wirtschaft mit personalisierter Werbung Umsätze steigern will. Unser Leben beeinflusst dagegen massiv, dass sogenannte Denkfabriken, also Institute zur Beratung von Wirtschaft, Politik und Medien, ganze Bevölkerungen kontinuierlich beobachten und aus der Analyse von deren Einstellungen, Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Stimmungen die geeigneten Strategien ableiten, um Macht zu sichern und demgemäss die Gesellschaft zu formen. Denn die Mächtigen haben mit ihrem Wissen über die Menschen längst die modernen Gesellschaften in effizienter Weise ungerecht, antiökologisch und demokratiefeindlich verändert. Dem müssen die Betroffenen das gesammelte Wissen über die Macht entgegensetzen, wozu besonders Transparenz des Lobbyismus und des staatlichen Handelns beiträgt.

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“Freiheit im tiefsten Sinne des Wortes bedeutet (…) mehr, als ohne Rückhalt zu sagen, was ich denke. Freiheit bedeutet auch, dass ich den anderen sehe, mich in seine Lage hineinzuversetzen, in seine Erfahrungen hineinzufühlen und in seine Seele hineinzuschauen vermag und imstande bin, durch einfühlsames Begreifen von alledem meine Freiheit auszuweiten. Denn was ist das gegenseitige Verständnis anderes als die Ausweitung der Freiheit und die Vertiefung der Wahrheit?”
Václav Havel, Staatspräsident von Tschechien und Schriftsteller, am 24.4.1997 im Deutschen Bundestag

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In einem anderen Bereich wirkt Empathie heilend: wenn Fachleute für Krankheiten und Krisen die leidenden Menschen besser verstehen als diese sich selbst. Sie hören zu, folgen ihrer Intuition, erspüren mit hoher Sensibilität die Persönlichkeit ihres Gegenübers ganzheitlich. Die entsprechenden einvernehmlichen Therapien und Beratungen werden wahrscheinlich gelingen.

Theaterspielen, auf einer Bühne oder sonst im Leben eine Rolle übernehmen, das setzt empathische Kompetenz voraus und übt sie. Je bewusster die schauspielende Person eine andere darstellt, desto deutlicher wird für sie deren Eigenart mit Unterschieden wie Ähnlichkeiten. Dass sie in einer anderen, stimmigen und glaubwürdigen Rolle die Perspektive wechselt, ist befreiend und erweitert die Möglichkeiten des Zusammenlebens.

Es geht aber auch ohne Aktion, an einem ruhigen Ort – im Meditieren lassen sich andere Menschen und das Verbundensein mit ihnen empfinden.

Matthias Kunstmann / maximil

Themen: Allgemein · Kultur · Politik

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