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Kleine Schreckensgeschichte der Nation

12. August 2022

„Nationalismus ist Krieg.“ Emmanuel Macron, damals Kandidat für die französische Staatspräsidentschaft, 4.4.2017 („Le nationalisme, c’est la guerre.“)

Der Nationalstaat ist eine europäische Erfindung, die seit etwa 400 Jahren entwickelt wird, inzwischen weltweit verbreitet ist und der Menschheit wenige Vorteile gebracht, aber gewaltige Zerstörungen angerichtet hat. Es gibt bessere Formen des Zusammenlebens.

In vorgeschichtlicher Zeit lebten Gruppen von Menschen, Stämme, Clans in wenig besiedelten Naturräumen nebeneinander, regelten ihre inneren Angelegenheiten und versuchten Konflikte mit benachbarten Gemeinschaften etwa um Jagdgründe oder Viehweiden entweder durch Gewalt zu lösen oder durch Handel und Austausch.

Dann entstanden bei zunehmender Bevölkerung weltweit durch Zusammenschlüsse, Wanderungen und Eroberungen grosse Reiche, die oft schnell wieder zerfielen, aber mit geeigneter Organisation und Politik längere Zeit bestehen blieben. In solchen Reichen lebten viele verschiedene Völker und Gemeinschaften zusammen, ohne dass zwischen ihnen besondere Unterschiede gemacht wurden. Der entscheidende Unterschied war immer und ist bis heute der zwischen oben und unten, zwischen den Mächtigen, den weniger Mächtigen und denen, die keine Macht haben.

Nach dem Mittelalter wurden in Europa Staaten organisiert, die umfassend geordnet und verwaltet sein sollten, um wirtschaftlich möglichst leistungsfähig zu werden und Herrschaft im Inneren sowie nach aussen zu sichern. Dazu wurden Fabriken und Verkehrswegenetze gefördert, Polizei eingerichtet und die Grenzen kontrolliert. Es ergab sich Wohlstand, für die einen mehr, für die anderen weniger.

Vor allem in Frankreich kam in der Aufklärungszeit die Idee ins Gespräch, dass es im Staat auf die Nation ankommt, die Gemeinschaft seiner Menschen. Es war ein sozialer Gedanke: Die Bürger (erst viel später auch die Bürgerinnen, sie wurden wie die Kinder zunächst von den Männern vertreten) sind zusammen entscheidend für die Leistungen des Staates. Sie haben deshalb auch Anspruch auf Rechte. Die Menschenrechte wurden entwickelt. Mit ihnen wurde begründet, dass in der Staatsnation grundsätzlich alle Menschen, egal welcher Abstammung, Hautfarbe oder Weltanschauung, gleich sind.

Dieser Nationalgedanke wurde in Deutschland übernommen, jedoch bald überwiegend anders verstanden. Hier sollte die Nation der Zusammenschluss der Deutschen sein. Ähnlich wurde in anderen europäischen Ländern die Nation als Gemeinschaft eines bestimmten Volkes definiert, in der Menschen in Minderheiten und von anderer Herkunft nicht gleichberechtigt sind. Sie werden ausgegrenzt, während wissenschaftliche Theorien sowie Mythen und Ideologien den Vorrang des eigenen Volkes bekräftigen sollen. So können Nationalismus und Rassismus zu Diskriminierung, Gewalt, Pogromen, Krieg und Völkermord führen. Deutscherseits geschah dies im letzten Kaiserreich und seinen Kolonien, im Ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus. Frankreichs Militär hat danach in seinem Kolonialgebiet Massaker begangen.

Die Nationalstaaten haben sich von Europa aus in aller Welt verbreitet, besonders bei der Auflösung der europäischen Kolonien. Aus ihnen wurden Staaten nach europäischem Vorbild, die meist nicht zu den kulturellen, historisch-traditionellen und natürlichen Bedingungen dieser Länder passten. Unzählige gewaltsame Konflikte um Grenzen, Zugehörigkeit und Vorherrschaft waren die Folge.

Europa hat versucht, politisch zu lernen und weiterzudenken. Das Ergebnis war nach dem Ersten Weltkrieg die Demokratie, die es bis dahin nur als Ausnahme wie in der Schweiz oder ansatzweise gab. Die ersten demokratischen Verfassungen einiger Staaten endeten allerdings nach wenigen Jahren in Diktaturen. Das Ergebnis des Denkens nach dem Zweiten Weltkrieg war die Europäische Union. Sie sollte die nationalen Grenzen überwinden, die Völker zusammenbringen, durch Zusammenarbeit Wohlstand vermehren und dauerhaften Frieden gewährleisten. Dies ist über Jahrzehnte weitgehend gelungen und war ein Gewinn für alle beteiligten Länder.

Währenddessen hat der in Deutschland und Russland entwickelte Kommunismus die Gleichheit der Menschen über staatliche Grenzen hinweg obenangestellt. Er wollte den Internationalismus. Die Menschen, die in den meisten Ländern Osteuropas und anderswo den Kommunismus unterstützten, waren zumeist darin einig, dass nationale Politik durch internationales Zusammenwirken zu ersetzen war.

Nach dem Ende des Kommunismus um 1990 hat in Europa und darüber hinaus der Nationalismus wieder um sich gegriffen und bestimmt seither verbunden mit dem Kapitalismus in vielen Ländern zunehmend die Politik. Ursachen sind immer schnellere und intensivere Veränderungen in der globalisierten Welt, von denen viele Menschen sich getrieben und verunsichert fühlen. Über den so genannten Fortschritt und die täglich neuen Modernisierungen können sie ebenso wenig entscheiden wie über die Lösung sozialer und politischer Probleme. Hinzu kommen Wohlstandsüberdruss und gesellschaftliche Sinnkrisen. In der Folge wird versucht, eine vermeintlich heile Welt der Vergangenheit wiederherzustellen. Dabei werden als störend empfundene Menschen und Verhaltensweisen ausgeschlossen und von autoritären Führungspersonen wird erwartet, dass sie für Ordnung und gemeinsame Gefühle von Macht und Stärke sorgen. Reale allgemeine Probleme und Krisen werden so eher verschärft als bewältigt. Etwas anderes ist es, sinnvolle Werte im Denken und Handeln zu bewahren.

In den Balkankriegen der 1990er-Jahre wirkte der neue Nationalismus sich bereits mörderisch aus. Massaker an missliebigen Volksgruppen oder Vertreibungen wurden dort als „ethnische Säuberungen“ bezeichnet. Nationalistische Politik läuft auf zerstörerische Trennungen hinaus und vergisst die Möglichkeiten schöpferischen Miteinanders. Dies zeigt sich auch in den europäischen Staaten, die sich von den USA und der NATO gegen Russland aufrüsten liessen. Im Fall der Ukraine hat solche Politik wieder einen Krieg in Kauf genommen.

Zuvor hat die EU als Ganzes einen nationalistischen Kurs eingeschlagen, indem sie die Aussengrenzen für Geflüchtete sperrte und eine eigene Militärmacht aufbaute. Großbritannien trat aufgrund nationalistischer Emotionen aus der EU aus. In Katalonien prallen eigener und spanischer Nationalismus aufeinander.

Berechtigt sind Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Regionen von Staaten müssen unabhängig werden können. Demokratisch und friedlich, am besten im Konsens: Eine Volksabstimmung unter internationaler Aufsicht in der betreffenden Region muss zunächst den Wunsch ausdrücken, dann verhandeln der Staat und die Region über Einzelheiten und danach muss eine weitere Abstimmung die Selbstständigkeit bestätigen. Die internationale Gemeinschaft, zu der ein Land gehört, etwa die EU oder die UNO, hat darüber zu wachen, dass für alle und überall die Menschenrechte gleichermassen gelten. Auch in der staatlichen Unabhängigkeit ist es zudem von allgemeinem Interesse, dass die Grenzen offen sind, dass die Menschen verschiedener Zugehörigkeit sich miteinander verständigen – dass Zusammenarbeit und Austausch allen Vorteile bringen.

Matthias Kunstmann / maximil
Foto: Gabi Schoenemann / pixelio.de

[Dazu:
Wirksamer Einsatz für Demokratie und Menschenrechte
Die Menschenwürde gilt für alle
Gespräch über Grenzen
Beim Erinnnern wird es klar]

Themen: Allgemein · Kultur · Politik

1 Kommentar bis jetzt ↓

  • 1 André Schmidt // 18. Oktober 2022, 13:58 Uhr

    Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat dazu gesagt: „Das Konzept von Zivilisationen, die über ihren Territorien Fahnen flattern lassen, kommt mir archaisch und mörderisch vor. In der Hinsicht haben wir Juden jahrtausendelang vorgeführt, was ich gerne als die nächste Phase der Geschichte sähe: eine Zivilisation ohne territoriale Grenzen, beziehungsweise zweihundert Zivilisationen ohne einen einzigen Nationalstaat.“ (In „Freie Jüdische Stimme“ 1980)

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