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Die Industrie abwickeln!

9. November 2023

Als die Industrie aufkam, verliessen Männer, Frauen und Kinder aus Handwerker- und Bauernfamilien ihre Dörfer und gingen in die nächstbeste Stadt, um in Fabriken zu arbeiten und damit ihr Einkommen zu sichern. Sie mussten dort genau das tun, was ihnen befohlen wurde, immer wieder die gleichen Handgriffe, im Takt der Maschinen, mit grösster Anstrengung, zwölf und mehr Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche, in wenig beleuchteten Hallen mit Rauch, Staub und Lärm. Dafür gab es etwas mehr Geld, als sie zuvor verdienen konnten, aber wenn jemand krank wurde oder einen Unfall erlitt, gab es keines. Abgase zogen durch die Siedlungen und Abwässer vergifteten die Flüsse.

Heute sieht die Industrie in den modernen Ländern sauber und sozial aus, zeigt sich mit eleganten Werksanlagen und Büros und gilt als entscheidender Faktor für den Wohlstand der gesamten Bevölkerung. Aber das täuscht. Inzwischen haben die schädlichen Wirkungen der Industrie ein Ausmass erreicht, dass sie die Lebensgrundlagen der Menschheit zerstören. Die Industrialisierung ist eine Fehlentwicklung der Zivilisation. Dies muss Konsequenzen haben.

»Eisenwalzwerk«, Gemälde von Adolph Menzel, 1872-75, Alte Nationalgalerie Berlin. Dargestellt ist ein Betrieb der Königshütte beim nach ihr benannten Ort in Oberschlesien (heute Chorzów). Sie gehörte zu den ersten mit Dampfkraft betriebenen Hüttenwerken in Europa ausserhalb von England, wo die Industrialisierung begonnen hatte. In der Walzfabrik stellten die Arbeiter Eisenbahnschienen her.

Wie Industrie tötet

Die Chemie-Industrie hat neben manchen nützlichen Produkten eine Vielzahl schädlicher Stoffe in die Welt gebracht. In ihren Laboren erfindet sie Substanzen, die ohne objektive Prüfung der Wirkungen massenhaft vermarktet werden und die menschliche Gesundheit sowie die Umwelt angreifen. Schneller als Kontrollbehörden solche Stoffe aufspüren und verbieten können, setzt diese Industrie weltweit neue giftige Produkte frei. Bekanntere unter ihnen, alte und neue, sind das Insektizid und Nervengift DDT, das in die Muttermilch gelangte; die »Holzschutzmittel« PCP, das herzschädigend ist, und Lindan, das Krebs erzeugt – sie schwächen ausserdem das Immunsystem; PCB als Isolier- und Hydraulikmittel, die ebenfalls grossflächig in die Umwelt geraten sind, sich im menschlichen Körper anreichern und unter anderem Krebs auslösen können; Bisphenol A in Lebensmittelverpackungen und Kinderspielzeug kann schon in kleinen Mengen die Hormone beeinflussen und krank machen.

Es gibt Tausende weitere Produkte der chemischen Industrie mit hohem Risiko. Sie wirken sofort auf das Leben in Katastrophen wie bei der BASF in Ludwigshafen-Oppau 1921 und 1948, wo durch Explosionen jeweils Hunderte Menschen starben, in Seveso (Italien) 1976, wo in der Umgebung einer Fabrik des Schweizer Konzerns Roche viele teils todkrank wurden, oder als Gift einer mehrheitlich dem US-Konzern Union Carbide gehörenden Produktionsanlage in Bhopal (Indien) 1984 geschätzt bis zu 25000 Menschen tötete. Meistens schädigen die gefährlichen Chemikalien schleichend, auf verschiedene Weise und so, dass die genaue Ursache nicht nachweisbar ist.

Vor allem Pestizide für die Landwirtschaft, Müll aus der gigantischen Plastikproduktion in grösseren Teilen oder als Mikro- und Nanopartikel sowie Rückstände von Reinigungsmitteln und Kosmetika haben sich bis in die entlegensten Winkel der Erde und über alle Weltmeere verbreitet. Sie sind mittlerweile in Pflanzen, Tieren und Menschen zu finden, und dies zunehmend, weil sie nur langsam abgebaut werden und immer mehr von solchen Substanzen hinzukommt. »Ewigkeitschemikalien« werden industrielle Stoffe wie die PFAS genannt, die zum Beispiel in Textilien verarbeitet sind und als abgeriebene Fasern Jahrhunderte lang in der Luft, den Ackerböden und im Wasser bleiben werden – mit unabsehbaren Folgen für das Ökosystem und das Leben.

Verbunden mit der Chemieproduktion, oft im selben Konzern, ist die Pharma-Industrie. Geschäfte mit Arzneimitteln bringen besonders hohe Gewinne, weil für viele Menschen, wenn nicht die meisten, die Gesundheit das höchste Gut ist. Sie sind bereit, viel dafür zu bezahlen, oder lassen dies die Krankenversicherungen tun. Der Arzt oder die Ärztin muss bei einem Rezept nicht auf den Preis schauen, die Versicherung auch nicht, solange sie die nötigen Beiträge erhält. Die Industrie pflegt deshalb enge Kontakte zu den Arztpraxen. Sie macht daneben riesige Umsätze mit nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln, die oft nutzlos sind, teils abhängig machen und meist eine gesundheitsfördernde Lebensweise vermeiden helfen. An der Corona-Pandemie haben Pharma-Unternehmen mit Impfstoffen dank staatlicher Zuschüsse weltweit enorme Summen verdient.

Viele Pharma-Produkte werden verkauft, um durch Chemikalien verursachte Gesundheitsschäden zu heilen. Zugleich führen Nebenwirkungen von Medikamenten nach Angaben von Pharmakologie-Fachleuten jährlich in Deutschland zu Tausenden bis Zehntausenden Todesfällen. Dies alles sollte dazu veranlassen, der Industrie nicht mehr das übliche Vertrauen zu schenken, wenn es um gute Medizin und gesundes Leben geht.

Die Lebensmittel-Industrie braucht die industrielle Landwirtschaft. Diese zerstört mit chemischen Spritzmitteln und aus Erdgas hergestelltem Kunstdünger die natürliche Artenvielfalt, eine der menschlichen Lebensgrundlagen. Das weltweit massenhaft angewendete sogenannte Pflanzenschutzmittel Glyphosat und seine Zusatzstoffe verbreiten sich mit Wind und Regen und vernichten nicht nur unerwünschte Pflanzen, sie töten auch Tiere wie Bienen, Amphibien und Fische, verunreinigen Lebensmittel, dringen mit der Atemluft und über die Haut in den menschlichen Körper ein und können Krebs verursachen. Der Bayer-Konzern und andere Unternehmen bekommen für ihr Milliardengeschäft damit trotz aller Bedenken und Proteste seit vielen Jahren immer wieder die staatlichen Zulassungen.

Protest gegen Spritzmittel im Weinbau, Bremm an der Mosel 2019. Foto: Stephan Tournay, Lizenz CC BY-SA 4.0

In vielen Ländern legt die internationale Agrar-Industrie grossflächige Plantagen und Viehweiden an und holzt dafür natürliche Wälder ab, die auch Lebens- und Wirtschaftsraum der einheimischen Bevölkerung sind. Landwirtschaftliche Industriebetriebe zwingen mit ihrer Marktmacht überall kleinere, naturnäher arbeitende Bauernhöfe zum Aufgeben. Ein grosser und wachsender Teil der agrarischen Erzeugnisse ergibt keine Lebensmittel, sondern Rohstoffe für andere Waren wie Textilien aus Baumwolle, Kosmetika aus Palmöl, Treibstoff aus Raps, Industriechemikalien aus Mais.

Die Bau-Industrie ist auf den nicht vermehrbaren Boden angewiesen. Mithilfe der Politik kann sie für ihr Wachstum aber immer mehr Bodenflächen verwerten. Dies geht auf Kosten der Landwirtschaft, der Natur und menschlicher Erholungsgebiete. Für Baumaterialien werden zunehmend begrenzte natürliche Rohstoffe verbraucht.

Die Produkte der Auto-Industrie sind fast überall zu sehen, wo Menschen sich aufhalten. Mit Autos sind die Städte und Siedlungen vollgestellt, wenn nicht auf den Strassen und Plätzen, dann in Parkhäusern. Im Verkehr mit ständiger Unfallgefahr beherrschen und verlärmen sie Wohngebiete und Naturlandschaften. Vor allem erzeugen sie mit ihren seit über hundert Jahren gängigen Verbrennungsmotoren giftige Abgase. Bedenkenlos missachten die Autokonzerne zusammen mit der Mineralöl-Industrie die Gesundheit der Menschen. Bis 1996 wurde noch toxisches Blei in die Umwelt und die Lungen geblasen. Durch Abgase und Feinstaub von Kraftfahrzeugen sterben in Deutschland jedes Jahr etwa 14000 Menschen vorzeitig, wie Modellrechnungen des Internationalen Rates für sauberen Verkehr (ICCT) ergeben haben.

Dennoch brachten die Hersteller schwerpunktmässig übergrosse Fahrzeuge mit hohem Treibstoffverbrauch und entsprechenden Abgasmengen auf den Markt. Die Automafia hat darüber hinaus Millionen ihrer Produkte betrügerisch mit falschen Schadstoffangaben verkauft, weil die Mengen im Verkehr weitaus höher waren. Viele der eingebauten Motoren halten trotz Nachrüstungsversuchen weiterhin die Grenzwerte nicht ein. Für die verantwortlichen Personen und Unternehmen hatte dies keine angemessenen rechtlichen Folgen, und die Politik hat kaum reagiert – schliesslich hat die Auto-Industrie in Ländern wie Deutschland eine mächtige Lobby und mindestens zwei Minister in der Regierung (mit dem Verkehrs- und dem Wirtschaftsressort). Staatliche Unterstützung ist ihr sicher.

Die tödlichste Industrie ist die der Rüstung. Sie gehört teils zur Auto-, Maschinenbau-, Elektronik- und Chemie-Industrie. Im Ersten Weltkrieg zeigte sie erstmals ihre Leistung, indem sie nie dagewesene Zerstörungsmittel bereitstellte: Panzer, Flugzeuge, Luftschiffe, U-Boote, Giftgas, unterstützt durch Funktechnologie. Die Rüstungs-Industrie kann sich bis heute in Kriegs- und Friedenszeiten darauf verlassen, dass für ihre hochpreisigen Produkte die Staaten Unsummen an Steuergeld ausgeben. Dafür erforschen und entwickeln Heere von Fachleuten immer neue und tückischere Waffensysteme. Was im eigenen Land oder Militärbündnis nicht abgenommen wird, ordern korrupte Herrschende anderer Länder. Sicherheit für Gesellschaften und Menschen garantiert dies nicht, im Gegenteil: Rüstung ist eine ständige Todesdrohung, die im Kriegsfall Vernichtung wird.

Hinter allen Industriebranchen steht die Finanz-Industrie. Ohne Kapital, Investitionen damit und Handel mit ihm geht in der industriellen Wirtschaft nichts. Die Banken und Börsen, die selbst nur Geld produzieren, haben die Macht, das gesamte wirtschaftliche Geschehen zu steuern. Dabei können sie mit nur wenigen Beschränkungen den kapitalistischen Prinzipien folgen: maximaler Profit, Rationalisierung, Innovation um jeden Preis, Wachstum ohne Grenzen. So betreibt die Finanz-Industrie – es gibt einige weniger industrielle Ausnahmen – die wirtschaftliche Globalisierung mit der Verschwendung von Rohstoffen, der Zerstörung der Natur, der Produktion sinnloser Waren für den Konsum, der Ausbeutung armer Länder, schädlichen Technologien und Aufrüstung.

Die grössten Finanzkonzerne gelten für den Staat als »systemrelevant«, der Staat ist wie die Wirtschaft von ihnen abhängig und sie können von ihm jede Unterstützung erwarten. Auch nach staatlichen Milliardenzahlungen in der Finanzkrise 2007/8, als spekulative Experimente in ein Desaster führten, konnten die Banken Regulierungen ihrer Aktivitäten verhindern.

Leben in der verunsicherten Welt

Die Industrialisierung hat in Europa und Nordamerika um das Jahr 1800 mit dem Einsatz von Motoren und Maschinen in immer grösseren Fabriken begonnen und mit der Elektrifizierung ab etwa 1880 einen immensen Schub bekommen. Schon anfangs gab es begründete Kritik und Widerstand: Handwerker und Arbeiter, die bisher in Werkstätten und Manufakturen gut verdient hatten, demolierten Maschinen von Textilfabriken, um gegen niedrigere Einkommen und Arbeitslosigkeit oder schlechtere Arbeitsbedingungen infolge der neuen Produktionsmethoden zu protestieren. Der Staat bestrafte sie teils hart, zugleich versuchte er, die sozialen Probleme zu lösen.

Arbeitskampf mit Maschinenbeschädigung, England um 1812

Das Ergebnis der Industrialisierung ist heute: Sie hat die Welt und die Lebensbedingungen so sehr verändert, wie es früher auch in viel längeren Zeiträumen nicht geschehen war, und sie verändert immer mehr. Das ist für Menschen angenehm, wenn sie Vorteile davon haben – sehr viele sind aber überfordert und verunsichert, vertrauen der Gesellschaft nicht mehr und fühlen sich unfrei.

Der industrielle Fortschritt hat schon im vorigen Jahrhundert die Bevölkerung vieler Länder verstört und fatale politische Reaktionen ausgelöst. Nachdem der Erste Weltkrieg mit seinem ungeheuren Einsatz moderner industrieller Entwicklungen die Mehrzahl der Überlebenden tief erschüttert hatte, entstanden politische Bewegungen, die gesellschaftliche Zustände der Vergangenheit wiederherstellen wollten: eine vermeintlich heile Welt der Familien, dörflichen Gemeinschaften und für sich lebenden Völker mit einer festen Ordnung, die Fremde ausschliessen sollte. Besonders nach der Weltwirtschaftskrise um 1930 kamen nicht nur in Deutschland rückwärtsgewandte, rechtsgerichtete und faschistische Parteien an die Macht. Eine ähnliche politische Stimmung verstärkt sich heute wieder und wirkt weltweit destruktiv. Dem lässt sich nur entgegenwirken, wenn bei den wirtschaftlichen Ursachen angesetzt wird.

Falsche und richtige Interessen

Die Industrie hat den meisten Menschen Wohlstand gebracht, aber viele befürchten Verluste. Ab einem gewissen Grad kann die Verfügung über Geld und Konsumgüter auch die Zufriedenheit nicht mehr erhöhen – besonders wenn eine verlässliche Lebenswelt und andere Werte fehlen. Stattdessen ergibt sich Überdruss. Industrie, Wohlstand und Waren gewährleisten keinen Lebenssinn, sie lenken eher davon ab. Dabei werden die entstandenen krassen Unterschiede zwischen Reich und Arm als extreme Ungerechtigkeit empfunden.

Zudem sind demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten durch industrielle Interessen massiv eingeschränkt. Viele Industriekonzerne sind längst mächtiger als Staaten und bestimmen die Politik. Im Einzelnen bestimmt die Industrie über das Gesundheitswesen, die Inhalte der Schulbildung, die wissenschaftliche Forschung, die Energieversorgung, Projekte des Städtebaus und des Verkehrs, die Digitalisierung fast aller Lebensbereiche. Regierungen und gewählte Abgeordnete sehen sich zumeist in der Pflicht, die Interessen der Industrie vorrangig oder hauptsächlich zu bedienen. Regelmässig sollen Arbeitsplätze und Wohlstand eine solche Politik rechtfertigen – diese Phrasen sind auch erpresserisch. So erscheint die Politik alternativlos und ist die Demokratie wirkungslos. Menschen und Gruppen, die eine bessere Gestaltung der Lebensbedingungen wünschen und dafür gute Vorschläge haben, fühlen sich ohnmächtig.

Aus allen diesen Gründen ergibt sich das notwendige Vorhaben: Die Industrie abwickeln!

Für neues Wohlbefinden

Das Ziel muss sein, die Konzerne zu entflechten, sie aufzuteilen und daraus wieder überschaubare Unternehmen zu machen, die der Demokratie und dem Gemeinwohl verantwortlich sind. Statt Grossbetrieben mit übermässiger Arbeitsteilung und langen Pendlerwegen soll es wohnortnahe Werkstätten und Dienstleistungfirmen geben, in denen selbstbestimmtes und ganzheitliches Arbeiten möglich ist. Menschen sollen sich nicht den Maschinen und der Automatisierung anpassen müssen. Massenproduktion für den Weltmarkt soll wieder ersetzt werden durch die Herstellung hochwertiger und dauerhafter Güter für den individuellen Bedarf in der Region. Handwerk kann persönliche Unikate schaffen und bewährte Gegenstände reparieren oder kreativ umgestalten – das verdient mehr Anerkennung. »Industria« bedeutete früher einfach bewusste, zielgerichtete Tätigkeit.

Zu erreichen ist diese menschengerechte Zusammenarbeit, indem grosse Unternehmen merklich höher besteuert werden und Wirtschaftsförderung nur noch Unternehmen geringer Grösse erhalten. Auch Kartellregeln würden helfen. Arbeit für das allgemeine Wohl, für soziale und kulturelle Zwecke muss Vorrang haben. Dazu gehören entsprechende Ausbildungen und Verdienstmöglichkeiten. Auch wenn die Machtverhältnisse dem noch entgegenstehen – dieses Vorhaben muss bewusst sein und im Gespräch bleiben, damit es bei jeder Gelegenheit vorankommt.

So würde eine andere Art von Wohlstand wachsen: ohne die gegenwärtigen Schäden, Verluste und existenziellen Bedrohungen, ohne die sozialen Spaltungen, Ungerechtigkeiten und Herrschaftsstrukturen, ohne die bisherigen Folgekosten, mit Wohlbefinden, mit viel Sinn und mit genug zum guten Leben für alle.

Salvatore Gentilesco

> Gemeinwohl-Ökonomie

[Dazu:
Wir regieren uns selbst am besten!

Fällige Kritik des Wachstumsdenkens]

Themen: Allgemein · Natur · Politik

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