ier sein. Im Korbsessel mit dem kühlen Kissen, auf dem rissigen Holzboden, dicht an der gekalkten Wand. Manchmal kann ich ganz hier sein. Die Gedanken laufen nicht mehr zum letzten nervigen Telefongespräch, sie kehren auch zusammen mit den besorgten Gefühlen von dem Vermittlungstermin morgen zurück zu mir. Ich sitze hier, an diesem Ort, an dem nur ich bin. Einzigartig. Ich spüre. Atme. Bin mitten in der Welt.
ch geniesse diesen Moment. Danach bin ich anders als vorher, das ist meine Erfahrung. Ich bin präsenter, selbstbewusster, freier. Weiss genauer, worauf es ankommt. Ich wende mich meinen Mitmenschen achtsamer zu.
olches Hiersein und das, was daraus folgt, lässt sich religiös oder spirituell nennen. Es ist mehr als ein Verhalten oder eine Methode. Für mich ist es ein ursprüngliches Erlebnis. Es gelingt mir nicht einfach, wenn ich es will. Aber ich suche es. Dieses und anderes.
raussen kenne ich einen Baum, eine grosse Linde am Rand einer Kräuterwiese. Vor dieser Linde, in gewissem Abstand, stehe ich andächtig. Diesmal sehe ich von mir ab und schaue auf die Linde. Ich gehe aus mir heraus. Ich lasse mich nicht stören. Ich nehme wahr. Wie sie da auf dem Erdboden steht. Wie ihre Äste, Zweige, Blätter und die zarten geflügelten Blüten in der Luft sind, vor dem Himmel. Ich kann den Baum nicht erklären und will es nicht. Ich ahne schon vieles. Vielleicht ist in der Linde eine Seele.
ie strenge Wissenschaft würde dies als unsinnig einstufen. Aber was ich mir vorstellen kann, ist da. Nur nicht greifbar oder festlegbar. Es ist immer wieder wunderbar. Bereichernd. Wie Musik - früher wurde angenommen, dass sie von den Klängen der Sterne kommt. Ich werde berührt, von weit her, und empfinde das Mögliche als so wirklich, dass es mich ein wenig erneuern kann. Zur Kultur gehört die Poesie, das ist verständlich und erfreulich.
enn ich religiös inspiriert lebe, werden Beziehungen geschaffen und gestaltet. Das kann so geschehen: Ich schreibe einer Freundin einen Brief, auf echtem Papier, mit einem Tintenstift. In Ruhe sinne ich nach, wie es ihr gerade geht und was sie besonders interessiert, und erzähle ihr meine Geschichten. Mit meiner Schrift. Für ihr Leben. Ein andermal spreche ich auf der Strasse mit einem Fremden, der unsicher scheint, und auch da weiss ich intuitiv, was ich tue und wofür es gut ist. Gleich in welcher Situation ich mit einem Menschen zu tun habe, es ist nie zufällig, sondern bedeutet etwas. Ein Philosoph hat formuliert: “Um Religion zu haben, muss der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe.” (*) Für mich ist es richtig, alles Leben zu lieben.
chön, wenn das, was wir erleben, zusammenstimmt. Wenn ich kritisch mit mir und anderen einig bin. Wenn wir dem Ganzen vertrauen. In Glaubensgemeinschaften wie den Religionen kann sich dies ereignen. Ihre Festlegungen, Vorschriften und Machtstrukturen sind allerdings auch hinderlich. Ebenso wie das, was unsere globale Zivilisation nahelegt: aufwendiger Konsum, mediale Illusionen, Selbstoptimierung. Die Aufgabe der Religionen ist, die Erinnerung an das wirklich Wichtige wachzuhalten und das gute, begeisterte Leben zu vergegenwärtigen. Glauben heisst für mich aber nur vermuten. Lieber möchte ich hoffen.
Claire Destinée
(* Friedrich Schleiermacher, “Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern”, Berlin 1799, S. 89)
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1 anana nagorny // 31. Juli 2013, 00:27 Uhr
Es spricht mich an, was F. Schleiermacher über das wahrhaftig empfundene Verbundenheitsgefühl schreibt. Wir lieben uns am Leben. Das Leben ist in uns als Wechsel zwischen Ichbezogenheit und Dialog. Manchmal verwischen sich die Grenzen - wir agieren “entgrenzt” - inspiriert durch ein besonderes Erlebnis, für einen Augenblick. Wir sind unter Menschen und doch für uns. Wir sind alleine mit uns und doch fühlt es sich an, als könnten wir just die Welt umarmen für die Ergriffenheit eines Moments, den wir geistig teilen - obgleich allein. Wachheit kann kostbar sein. Tagtraum kann beschützend sein - und umgekehrt.
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