Können wir stehen? Stehen ist eine Haltung, oder Art des Daseins, die viel bedeutet. Eigentlich ist es einfach, aber wenn wir uns dabei zuschauen, ist das Stehen nicht so selbstverständlich. Ein Kind, das erst nur gekrabbelt ist, zieht sich mit den Händen an einem Stuhl hoch, dann lässt es los - ein aufregender Augenblick, es hat stehen gelernt, jedoch noch nicht ganz, die Augen suchen umher, nach einem grösseren Menschen, der den kleinen bewundert, und da gerät die Balance ins Schwanken, und das Kind sitzt wieder auf dem Boden.
Im Stehen ist mehr zu sehen, der Überblick ist besser. Es ist eine Figur der Konzentration, ich bin gesammelt, ruhig und selbstbewusst. Ein Mensch verbindet so, aufrecht, Erde und Himmel. Im Gleichgewicht - und dieses braucht einen festen Stand; wenn es nicht ein Durchgangszustand ist und wir uns im Gehen oben halten.
Frauen in Kamerun (Foto: Elaine Pearson)
Mit beiden Füssen auf der Erde ist das Stehen zu spüren: Unten ist fester Boden, der trägt, und solange die Füsse ihn berühren, gibt er Halt und sogar Energie, wie den Wurzeln eines Baumes. Der Körper streckt sich. Da stimmt es: Aus der Ruhe kommt die Kraft - für die Bewegung und den Kopf.
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Die Sphinx, das rätselhafte Ungeheuer im alten Griechenland, fragte, wenn jemand an ihr vorbeiwollte: “Was ist das für ein Lebewesen, das erst vier Beine hat, dann zwei und schliesslich drei?” Ödipus wusste die Antwort: “Es ist der Mensch: Als kleines Kind bewegt er sich auf allen Vieren, dann steht er auf seinen zwei Beinen, und im Alter nimmt er einen Stock dazu.”
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Anders fühlt sich das Stehen im weichen, rieselnden Sand an. Oder das Stehen auf einem Bein, das im Ballett vollendet wird. Oder, umgekehrt schwierig, der Kopfstand. Oder das Stehen auf einem Berggipfel, über der Welt und dem Himmel näher. Oder das Stehen auf einem Seil, sodass es fast schon Fliegen ist. Aber das heisst ja Seiltanz.
Wir sitzen meistens zu viel, das ist ungesund. Im Stehen können wir, indem wir uns aus- und einschwingen, eine angenehme Form finden, von den Füssen bis zum Scheitel. Und so nach unserem Gefühl richtig stehen.
Es sollte am jeweils richtigen Ort sein: wo ich eine Situation, eine Umgebung am besten wahrnehme. Bei den Menschen, mit denen ich zusammen sein, kommunizieren und zu tun haben will. Da, wo ich mich besinnen kann. Oder an einem ungewohnten Ort, wo es eine andere Perspektive gibt, einen weiteren Horizont, und wo - auf den Füssen oder im Rollstuhl - Erfahrungen möglich sind.
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“Bleib, leg deine Schuhe ab, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden!”
Bibel, Exodus
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Zwei begrüssen einander im Stehen, blicken einander dabei in die Augen. Die Gesten sind symbolisch, bezeugen üblicherweise Respekt, Ehrlichkeit, gemeinsame Interessen, bis hin zur Zuneigung.
Wie ein Mensch zu einem Mitmenschen oder zu einer Aufgabe steht, ist im Fall von Konflikten oder Problemen oft unklar. Das psychologische Mittel der systemischen Aufstellung kann helfen, die Lage zu klären, und Impulse für Lösungen geben: Der problematische Fall wird mit wohlwollenden Unbeteiligten in Rollen und einer Szenerie, wie im Theater, dargestellt, zunächst als Standbild, dann sich verändernd in intuitiven Äusserungen, Schritten und Handlungen, bei denen alle Mitwirkenden aufeinander achten. “Ich steh zu dir!” ist schliesslich ein Wort des Vertrauens.
Duran Adam: Der Künstler, Tänzer und Choreograf Erdem Gündüz im Juni 2013 auf dem Taksim-Platz in Istanbul (Foto: N.N.)
Manchmal ist es gut, anlässlich von Ärgernissen “drüberstehen” zu können, also im Abstand zu sein und gelassen zu bleiben. In der Gemeinschaft wird verlangt, dass ich für mein Verhalten geradestehe, es verantworten kann. Und angesichts von Zumutungen, Druck, Verführung und Unrecht ist es nötig zu widerstehen. Standhalten und Anstand bewahren, sich nicht mitreissen, vereinnahmen, verbiegen lassen, selbstbestimmt sein, allein oder zusammen mit anderen (dazu ist vorstellbar, wie ein Felsen in der Brandung steht): Das zeigt Menschenwürde, und es wirkt. Physisch und als weltweites Vorbild leistet solchen Widerstand der Duran Adam, der Mensch, der steht, auf einem öffentlichen Platz, stundenlang, mit dem Gesicht in eine bedeutsame Richtung.
Wer versteht, was richtig ist, fürchtet den Stillstand nicht. Im Stehen können wir nach den Sternen greifen.
maximil
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