Die Corona-Krise ist auch eine Sinnkrise. Auf einmal haben viele bemerkt, dass das Leben anders sein kann: ohne Hektik, Stress und zu viel Arbeit, mit Ruhe und Musse, nicht mehr auf Kaufen und Konsum ausgerichtet, sondern auf das Geniessen dessen, was schon da ist, nicht unterhaltungssüchtig, stattdessen mit der Natur verbunden. Einzelne kannten und schätzten das schon vorher, sie waren Ausnahmen von der gesellschaftlichen Regel. Im Jahr 2020 wurde es eine gemeinsame Erfahrung.
Es wurde als Herunterfahren, Schliessen, Einschränkung erlebt und hat damit verunsichert: Auf wie viel müssen wir da verzichten? Wie sollen wir mit den neuen Zuständen zurechtkommen? Wird es noch alles geben, was wir brauchen? Und die Frage stellte sich: Geht das vorbei oder ändert sich etwas auf Dauer? Zugleich konnte das veränderte Dasein als angenehm erfahren werden, heruntergeregelt von einem überzogenen auf einen verträglichen Grad, entschleunigt, gerichtet auf das wirklich Wichtige, mit neuer Freiheit.
Also spricht einiges dafür, nicht zu genau dem zurückkehren zu wollen, was vorher war. Das ist jetzt die grosse Aufgabe für unsere Gesellschaft und die Politik: die in der Krise entdeckten Bedürfnisse und Möglichkeiten wahrnehmen, Denkweisen und Strukturen darauf einstellen, bessere Bedingungen als bisher für das Zusammenleben schaffen.
Was jetzt zu tun und zu ändern ist
Das Erste ist, dass die staatlichen Krisenhilfen gezielt sind. Sie müssen den Menschen das nötige Einkommen sichern und die sozialen oder gemeinnützigen Einrichtungen erhalten. Dazu gehört eine intensive Beratung für Berufstätige, die klärt, ob eine Umschulung oder neue Qualifizierung günstig ist und gefördert wird. Dies sieht auch das Konzept des »Transformationskurzarbeitsgeldes« vor. Private Unternehmen soll der Staat nicht finanzieren. Viele begegnen einer veränderten Nachfrage und haben damit umzugehen, etwa durch Konversion.
Immer mehr Interesse und Zuspruch findet das Bedingungslose Grundeinkommen. Es würde allen materielle Sicherheit gewähren und wertvolle Tätigkeiten für die Allgemeinheit ermöglichen. Arbeit für den Lebensunterhalt muss längst nicht mehr so viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Automatisierung hat zu einer hohen Produktivität geführt. Dennoch hat für viele Beschäftigte der Arbeitsdruck nicht nachgelassen, sondern ist sogar intensiver worden, während Millionen kein oder zu wenig Geld verdienen. Es ist überfällig, die Regelarbeitszeit deutlich zu senken, mit gleich bleibendem Lohn und Gehalt zumindest bei niedrigem Einkommen. In den sozialen, kulturellen, Bildungs- und Dienstleistungsbereichen, wo menschliche Arbeit nicht ersetzbar ist und Arbeitskräfte fehlen, müssen die Berufe und Stellen dringend aufgewertet und attraktiv gemacht werden.
Auf jeden Fall werden sinnvolle Steuern gebraucht, die eine nachhaltige Entwicklung unterstützen, für Gerechtigkeit sorgen und die öffentlichen Ausgaben auch ohne Schulden decken. Um überflüssige und schädliche Produktion zu reduzieren, ist eine Luxussteuer angebracht. Die hohen Einkommen und grossen Vermögen, die in den letzten Jahren häufig noch stark zugenommen haben, müssen wieder mehr zum Wohl der ganzen Gesellschaft beitragen. Dies betrifft mindestens ebenso die massiv gestiegenen Gewinne von Unternehmen wie den Internetkonzernen und Firmen der Finanz- und Versicherungswirtschaft. Sie dürfen nicht länger von Steueroasen profitieren. Ausserdem sind Steuern auf teils spekulative Geschäfte an den Börsen dazu geeignet, auch bei nachlassender Wirtschaftsleistung gesamtgesellschaftlichen Reichtum zu bewahren. Finanztransaktionssteuern mit diesem Zweck wurden seit 2012 in Frankreich und Italien eingeführt.
Subventionen, staatliche Vergünstigungen für Branchen und Betriebe, fördern oft das Falsche, etwa in der Landwirtschaft, in der sich vieles für Menschen und Natur besser regeln liesse. Gerechtfertigt sind sie nur, wenn sie Nachteile ausgleichen.
Auf das Wichtige achten
Soziales, Kultur und Natur sind meistens wichtiger als Produktion. Für die übermässig hergestellten Waren gilt: Weniger ist mehr. Der Glaube an unendliches Wachstum der Wirtschaft ist unvernünftig und zerstörerisch. Im sozialen Bereich wird nicht von Wachstum gesprochen, Erfolg nicht an Umsätzen gemessen und der Gewinn in anderem als Geld erkannt. Die Wirtschaft soll nicht masslose private Interessen verfolgen, sondern die Grundbedürfnisse aller befriedigen. Dabei kann sie stabil sein und statt mit Wachstum in Kreisläufen funktionieren.
Wirtschaftliche Leistung soll nicht mehr nach bezahlten und eingenommenen Euros beurteilt werden (wie im bisherigen Bruttoinlandsprodukt), sondern nach dem Wohlbefinden der Beteiligten, das unter anderem von Gesundheit, Bildung, humanem Arbeiten und Wohnen, zwischenmenschlichem Austausch abhängt - und besonders von den geltenden Rechten, in Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens mitzugestalten und mitzuentscheiden. Die Idee des »Bruttosozialglücks« gibt dafür Hinweise.
Manches ändert sich von selbst, weil es nicht anders geht. Das kann, je nachdem, erfreulich oder schmerzhaft sein. Wenn Verluste vermieden werden und Wünsche sich erfüllen sollen, kommt es auf Miteinanderberaten und kluges Handeln an. An solchem politischen Wirken sollen alle sich beteiligen können. So lässt sich aus der Krise lernen - für ein angenehmes Leben.
Matthias Kunstmann / maximil
> Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech über die Krise als Chance, 2020
> Ministerium für Glück und Wohlbefinden
> Netzwerk Grundeinkommen - Europäische Bürgerinitiative
[Dazu:
Wirtschaft ist nicht alles
Fällige Kritik des Wachstumsdenkens
Gemeinsamkeit nützt allen]
2 Kommentare bis jetzt ↓
1 André Schmidt // 19. Oktober 2020, 12:15 Uhr
Es ist gut, dass der Flugverkehr abnimmt, denn er ist ungesund. Er wird auch immer noch nicht besteuert, also sinnlos subventioniert. Und wir bezahlen leider immer mehr für das Militär, das zu nichts gut ist. Es verwendet Fluggerät von Unternehmen, die zugleich für die zivile Luftfahrt produzieren. Wirtschaft für angenehmes Leben sieht anders aus.
2 Sylvie Natalicia // 10. November 2020, 17:10 Uhr
Dazu empfehle ich die Politökonomin Maja Göpel im Gespräch mit Anja Reschke, »After Corona Club«, NDR/ARD 18.5.2020:
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