In Träumen geschieht es oft: Die träumende Person bewegt sich durch fremdartige Szenerien, erkennt Gebäude, Räume, Landschaften manchmal wieder, meist sind sie unbekannt, ebenso begegnen Leute, rätselhafte Worte werden gesprochen, der Weg führt weiter durch Gänge und Türen, auch in irgendeiner Bahn oder einem Bus wird gefahren, wohin ist unklar, Grund und Absicht sind nicht zu verstehen, wichtige Dinge gehen dabei verloren, es wird gefährlich, in undurchschaubaren Situationen, aber da ist nichts zu machen, alles geschieht wie von selbst - dann, beim Erwachen, lässt sich aufatmen.
Doch können wir im wachen Zustand Ähnliches erleben.
Die Zivilisation hat die Welt immer genauer geordnet. Der Verkehr ist geplant, die Kommunikation ist geregelt, verschiedenste Abläufe sind gesichert. Verirren ist fast unmöglich. Zuverlässige Wegweiser werden auch in der Natur aufgestellt, Landkarten zeigen Einzelheiten, auch grosse Städte erschliessen sich durch Strassenschilder und Hausnummern, nur in Metropolen des Südens ist es noch anders. Dazu gibt es digitale Leitsysteme - die aber nicht verhindern, dass ein Speditionsfahrer, der mit seinem Navigationsgerät Brüssel, auf Französisch Bruxelles, erreichen wollte, wegen eines Missverständnisses in Bruchsal ankam.
Obwohl günstige äussere Bedingungen, Wohlstand und Informationen vorhanden sind, erscheint das Leben öfters wenig übersichtlich, die Welt chaotisch, ein nahestehender Mensch fremd. Es ist schwierig, sich mit anderen zu verständigen. Wie geht es weiter? Wohin? Was droht? Was kann ich hoffen? Vieles entscheiden andere über unsere Köpfe hinweg. Dagegen wollen wir uns behaupten. Es gilt, die eigene Aufgabe zu finden und zu erfüllen, die sinnvoll ist.
Der griechische Mythos vom Labyrinth spricht von einem Ort, der wahrscheinlich real war, eine vielfach verzweigte Höhle oder ein weitläufiges Gebäude, jeweils mit unzähligen Kammern und Hallen. Es war zugleich ein Symbol für wiederkehrende menschliche Erfahrungen. Die alte Erzählung lokalisiert es auf der Insel Kreta in oder nahe der damaligen Hauptstadt Knossos. Theseus erreichte im Schiff die Küste, wagte sich allein in das Labyrinth und fand im Inneren einen Schrecken erregenden Mann mit Stierkopf, den Minotaurus. Im Zweikampf besiegte er ihn. Danach musste er wieder ins Freie finden, und das gelang ihm mit einer Schnur, die er auf seinem Herweg abgewickelt hatte. Dies lässt sich deuten als eine Geschichte von Ungewissheit, Gefahr, Angst, Mut, Initiative, Klugheit, vom Suchen, Irren und Finden, von der Begegnung mit dem unbekannten anderen Ich und davon, wie ein Mensch sich im Inneren verändert. Dabei rettet die Liebe, denn sie brachte Ariadne dazu, Theseus die Schnur mitzugeben.
Als symbolisches Bild hat sich das Labyrinth verbreitet. Auf Bodenflächen dargestellt, war es betretbar und zugleich überschaubar. Entlang seiner Linien konnten sogar rituelle Tänze stattfinden.
Ein Mensch ist auf labyrinthischen Mauern unterwegs und dabei verbunden mit einem Leuchtturm und einem Engel - Grafik: Boetius Bolswert, 1624
Das Christentum verwendete das Bild vom Labyrinth auf Kirchenböden wie in der Kathedrale von Chartres mit einer bestimmten Form und Bedeutung: Der Weg, den die Gläubigen dort auf den Knien zurücklegten, ist verschlungen und windet sich, aber er ist unverzweigt und führt so wie da im religiösen Leben schliesslich in die Mitte, die heilige Mitte der Welt und die eigene Mitte. Er wurde auch als »Weg nach Jerusalem« bezeichnet, in die Stadt, die der Mittelpunkt einer neuen, besseren Welt werden sollte. Entsprechendes liess sich auf den europäischen Pilgerwegen nach Rom und Santiago erfahren, die keineswegs geradlinig, sondern mit vielen Windungen und durch einsame Gegenden an Kirchen, Kapellen und Klöstern vorbei zum Ziel führten. Die Pilgerschaft brauchte ihre Zeit.
Die Anlage von Irrgärten ist eine neuere Idee und ermöglicht mit Gängen im Grünen zwischen Spalieren und Hecken das Sichverlieren, Suchen, Finden, Sichbefreien als Spiel.
Es geht immer wieder um Orientierung, um den richtigen Weg. Das ist einige ruhige Gedanken wert - erst recht, wenn auch das eigene Innere mit ungenügendem Wissen, widersprüchlichen Vorstellungen, wenig erklärbaren Gefühlen labyrinthisch anmutet. Johann Wolfgang von Goethe untersuchte gern,
»was, von Menschen nicht gewusst
oder nicht bedacht,
durch das Labyrinth der Brust
wandelt in der Nacht.«
Anatomisch liegen fachlich so genannte Labyrinthe in den menschlichen Ohren. Sie sind nicht nur für die Aufnahme von Geräuschen, Klängen und sprachlichen Botschaften da, sondern auch auch für die akustische Orientierung, das Gleichgewicht und das Steuern von Bewegungen.
Wenn Menschen meist in mittleren Jahren in eine Krise geraten, sich erschöpft fühlen und spüren, dass es nicht so weiter gehen sollte wie bisher, dann können sie in sich zuvor unbeachtete Fähigkeiten und Motivationen entdecken und sich für eine neue Richtung entscheiden, in der Sinn liegt. Ein solcher Wechsel ist etwas anderes als das vielbeschworene Prinzip (»Change«), das mit immer neuem Umbau nur einen zweifelhaften Weiter-so-Fortschritt betreibt.
Umwege müssen hingegen nicht nachteilig sein. Auch auf ihnen ist einiges zu erleben und zu erfahren, ebenso in einer Sackgasse oder auf einem Irrweg. Aber sobald sich erkennen lässt, dass der scheinbar alternativlose Weg falsch ist, heisst es umkehren.
Matthias Kunstmann / maximil
0 Kommentare bis jetzt ↓
Dieser wäre der erste.
Kommentar