Schnell sein ist ein Vorteil bei Konkurrenz: Wer zuerst da ist, wo es etwas zu holen gibt, kann das Beste oder alles bekommen. Schnell sein ist auch ein Vorteil im Kampf und auf der Flucht. Allerdings kommt es in solchen Situationen mindestens ebenso auf anderes an: stark, geschickt, klug sein. Besser, als auf Sieg und Gewinn zu setzen, ist es in der zivilisierten Welt überhaupt, das gemeinsame Interesse zu beachten.
Schnelligkeit kann jedenfalls auch ein Nachteil sein. Im Verkehr bedeutet hohe Geschwindigkeit zum Beispiel ein erhöhtes Unfallrisiko. Im Arbeitsleben wird Tempo auf Dauer belastend. Hektik nervt - Nutzen und Schaden stehen in einem schlechten Verhältnis. Wenn schneller gehandelt als gedacht oder gefühlt wird, in Momenten, in denen neuen Herausforderungen nicht mit Routine begegnet werden kann, entstehen Fehler. Unüberlegtes Reagieren, bei dem der Instinkt in die Irre führt und keine Intuition hilft, nennt sich im Extremfall Panik. Sie ist gefährlicher als die Ausgangslage und hat meist üble Folgen. Rettend ist dann, Ruhe zu verbreiten.
Schnelligkeit ist also kein objektiver Wert. Aber offenbar läuft vieles immer schneller ab. Unsere Geschichte beschleunigt sich: Das Wachstum der Bevölkerung in grossen Teilen der Erde wird immer schneller, der technische Fortschritt, die Warenproduktion, die Dienstleistungen, die Rechner und Datenverbindungen, die Informationsübermittlung, politische Reformen, der Wechsel von Arbeitsplätzen, Partnerschaften und Lebensstilen, die Klimaerwärmung, das Verschwinden der Urwälder, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten. Vieles geschieht schneller, als wir es verstehen. Können wir da unsere eigene Geschwindigkeit noch selbst bestimmen?
Die Finanzkrise 2007/2008 war ein Ergebnis dieser globalen Beschleunigung. Transaktionen waren so komplex und liefen so schnell ab, dass sie nicht mehr nachvollzogen, gesteuert und kontrolliert werden konnten. Schliesslich wurde das katastrophale Tempo der ökonomischen Gewinnerzielungsprozesse der Politik aufgezwungen. In Deutschland sollte die Regierung angesichts der drohenden Pleite einer Bank, die als “systemrelevant” galt, über Nacht eine Lösung finden. Eine vernünftige Analyse, Beratung und Konzeption waren so schnell nicht möglich. Die Regierung der Grossen Koalition liess sich von der Bankenlobby erpressen, ebenso folgte die Mehrheit des Bundestages Hals über Kopf innerhalb einer Woche deren Vorgaben und zahlte trotz knapper Kassen Milliarden Euro zur angeblichen Rettung des Finanzsystems, in dem damit Private weiter auf Kosten der Allgemeinheit Profit machen können.
Ein Moratorium, eine Denkpause wären sinnvoll gewesen. Wenn etwas falsch läuft, ist es nötig, zu bremsen. Wir sollten uns nicht hetzen lassen. So wie die Menschen in Afrika, von denen erzählt wird, dass sie eine Expedition von Europäern begleiteten, aber nach einem Stück schneller Reise sich niedersetzten und auf die Frage, warum sie nicht weitergingen, sagten: Unsere Seele muss erst nachkommen.
Es ist Zeit, zu entschleunigen, dem Druck zu besinnungsloser Eile zu widerstehen, wieder den Rhythmus zu finden, der dem Leben gemäss ist. Langsamkeit wird inzwischen zu einem Qualitätsmerkmal. Langsam sein ermöglicht, den Wert erfüllter Zeit zurückzugewinnen.
In unangenehmer Zeit wird gewünscht, dass sie schnell vergeht. Es scheint, als sei den Menschen der modernen Zivilisation die meiste Zeit lästig, sodass sie ständig Neues ersehnen. Währenddessen vergeht das Leben unbemerkt. Gute Zeit dagegen, dies ist Konsens, soll dauern: ein schöner Urlaub, eine begeisternde Tätigkeit, eine Liebe. Der intensiv erlebte Augenblick soll bleiben. In solcher Musse ist es möglich, die Welt, die Menschen um uns und uns selbst wahrzunehmen. Und wir können das Leben wirklich geniessen.
Dafür gibt es Gelegenheiten.
Mit dem guten Essen wurde ein Anfang gemacht. Veranlasst durch den Wohlstand, der die verschiedensten Nahrungsmittel reichlich bereitstellt, und durch das ökologische Bewusstsein hat sich als Alternative zum Fast-Food-Konsum die Slow-Food-Bewegung gebildet. Erst sehen und verstehen, was die Natur, die Agrikultur und aus beidem schöpfende Menschen bieten, die feinen Unterschiede beobachten, die Geschichte der Lebensmittel kennen, dann bewusst auswählen, wenn möglich selbst zubereiten, komponieren und auftischen - das ist der Weg zum entspannten und inspirierten gemeinsamen Tafeln, mit Schauen, Schmecken, Teilen und Kommunizieren. Dergleichen geht nicht nur an Feiertagen, es gehört zu einem Lebensstil der Achtsamkeit, der selbstbestimmt Besonderheiten und Vielfalt wertschätzt und zwanglos für die Gesundheit und das Wohlbefinden auch der Mitmenschen und der Umwelt sorgt.
Cittaslow - auch diese Idee kommt aus dem kultursinnigen Italien. Ganze Städte verschreiben sich die Langsamkeit. Die Beteiligten da wissen: Die Geschwindigkeit, die international alles mit sich reisst, macht gleichförmig und langweilig. Statt hektischem Betrieb wollen sie angenehme Lebensbedingungen, einen ruhigen Rhythmus, Arbeiten und Wirtschaften in naturnahen regionalen Kreisläufen, um dabei den unverwechselbaren Charakter ihrer Stadt zu entwickeln.
Die Medien sind so schnell geworden, dass Informationen sofort weltweit bekannt werden - und dass es extrem schwierig geworden ist, in der Masse der Einzelheiten das Richtige und das Falsche zu unterscheiden und das wirklich Wichtige herauszufinden. Darauf reagieren die Initiativen für Slow Media. Damit immer Neues, aber Unerhebliches nicht das Bedeutsame vergessen lässt, bemühen sie sich um die fundierte, zusammenhängende, klare Information. Sie wollen das Verstehen fördern, Orientierung vermitteln, zur Bildung beitragen und zum verantwortlichen Handeln anregen.
Auch dieses Blog im schnellen Internet soll dementsprechend ein langsames Medium sein…
> Axel Hacke, “slow reading” (SZ-Magazin)
Sten Nadolny, “Die Entdeckung der Langsamkeit”, München 1983
maximil
1 Kommentar bis jetzt ↓
1 anana nagorny // 12. Januar 2011, 00:43 Uhr
leider hadere ich gerade mit dem Begriff “Langsamkeit”, denn ich erlebe, wie die Menschen hinter mir in der Ladenschlange ungeduldig werden. Meine Finger wollen nicht mehr so schnell wie früher.
Mal sehen, wann ich meinen Frieden damit mache und die Entschleunigung (bei mir unfreiwillig, daher ungewollt) als Wohltat empfinden werde..
Ungeduldige wie ich werden damit hart geprüft.
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