Wo gebaut wird, wiederholen sich die Rechtecke. Sie sind die Form, die fast überall im neueren menschlichen Siedlungsbereich ins Auge fällt, als könnte es nicht anders sein. Gebäude zum Wohnen oder Arbeiten oder auch nur zum Lagern von Waren sind quaderförmig und die Fenster in entsprechendem Raster. Von solchem Gleichen wird weltweit immer mehr in die Landschaft gestellt, und innen ist ebenso der rechte Winkel das dominierende Prinzip der Gestaltung, auch beim Mobiliar. Das wirkt eintönig, langweilig, deprimierend. Wie kommt es dazu?
Moderne Architektur spiegelt alte in Hamburg - Foto: Sami99tr,
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Ein Grund ist, dass sich mit rechten Winkeln einfach planen und billig produzieren lässt. Das Gestalten, soweit davon die Rede sein kann, darf einfallslos vor sich gehen, das Ausführen erfordert gleichfalls keine besonderen Kompetenzen. Behauptet wird, die Rechtwinklichkeit sei modern. Eine andere Formgebung wird vor allem in der Architektur von den Modernen als rückwärtsgewandt oder irrational abgewertet. Es ist festzustellen, dass der rechte Winkel ein Ergebnis der Abstraktion, des vereinfachenden Denkens ist. Sobald er ein Prinzip des Lebens werden soll und in einer Vielzahl von Gegenständen materialisiert wird, ist er ideologisch und im Zwang zur Ausrichtung der Welt sogar faschistisch. Er ist ein Zeichen für die Entfremdung des Menschen von der Natur - und damit auch von dessen natürlichen Bedürfnissen.
In der Natur sind gerade Linien und rechte Winkel äusserst seltene Formen unter einer Vielfalt anderer, erscheinen etwa an Kristallen von Salz und sonst wenigen Mineralien. Aber die Natur ist nicht starr wie manche Denkprinzipien, Normen und Verhaltensmuster. Wasser löst die Salzkristalle auf. Eine Tatsache ist, dass die Schwerkraft rechtwinklig zur Erdoberfläche wirkt; Bäume wachsen entgegen dieser Kraft und der Mensch hat mit ihr den aufrechten Gang gelernt. Sichtbar und zu erfahren ist aber meistens ganz anderes: Der Erdboden ist uneben, theoretisch waagrechte Wasserflächen haben Wellen und sind wie der Globus gekrümmt. Bäume wachsen zur Sonne und mit dem Wind, Blätter und Samen fallen nicht senkrecht, sondern können weit schweben. Menschen gehen gebeugt oder sitzen … Und Vögel fliegen die verschiedensten geschwungenen Linien.
Architektur, Handwerk und Kunst haben in ihrer Geschichte den rechten Winkel nur an bestimmten Stellen gebraucht. Für Häuser ist es sinnvoll, dass die Böden eben liegen und die Wände senkrecht stehen, im Übrigen geht beinahe alles. Bei Textilien verlaufen die Fäden von Kette und Schuss regelmässig quer zueinander, doch dann wird diese zweidimensionale Struktur in räumlichen Bögen und Verknüpfungen zu Kleidung geformt. Buchseiten sind meistens rechteckig, kaum dagegen ist es die Schrift.
Neue Staatsgalerie Stuttgart - Foto: Jaimrsilva, Lizenz CC BY-SA 4.0
Für das menschliche Leben sind die Ecken oft unbequem und innen schlecht zu nutzen, aussen kann sich jemand daran stossen, an Gegenständen werden sie abgewetzt und an Wegkreuzungen im Grünen abgekürzt, durch Flachdächer von Quaderbauten tropft der Regen. Praktisch und sinnlich wahrgenommen, ist die Rechtwinkligkeit so wenig funktional wie elegant. Sie wird deshalb auch nicht auf Fahrzeuge aller Art angewendet, denn da muss der Widerstand von Luft oder Wasser berücksichtigt werden und zudem sollen sie dynamisch aussehen. Und auch Kulturbauten wie Theater, Konzerthallen, Museen zeigen architektonische Freiheit.
Es gibt Gründe für das Übliche - und es gibt fast immer mindestens einen guten Grund, etwas anders zu machen.
Matthias Kunstmann / maximil
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Dieser wäre der erste.
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