Wo bin ich zu Haus? Das fragt sich André, weil er Zweifel hat, dass er am richtigen Ort ist. Mit seiner Wohnung ist er zufrieden, das ist es nicht, er hat sie nach seinem Stilempfinden eingerichtet, die Nachbarn sind verträglich. “Aber die Stadt …”, sagt André zu Ben, als er ihn auf dem Land besucht und sie vor dem Forsthaus sitzen. “Ich glaubte früher, wenn ich einen Ort wähle, um da zu leben, dann kann ich da zu Haus sein. In dieser Stadt ist es mir nicht gelungen.”
Ben blickt über die Wiesen auf die Wohngebäude und Scheunen am Rand des Dorfes. “Was meinst du mit ‘zu Haus sein’?”
André senkt einen Zeigefinger auf den Holztisch. “Ein Gefühl für diesen Ort bekommen. Mich vertraut fühlen, also nicht mehr fremd. Einen Grund unter den Füssen spüren, einen bestimmten. Zu den Menschen gehören - und da wird es schwierig.”
“Du willst nicht zu irgendwelchen Leuten gehören. Wenn du dich nicht besser verständigen kannst als anderswo, dann kannst du auf den Ort verzichten. Dann ist das, was Heimat genannt wird, für dich fraglich.”
“Ja”, sagt André, und beide schauen einander an, “deshalb will ich es wie Claire sehen. Von ihr habe ich gehört: Ich lebe mit den Menschen, die ich liebe, auf der Erde.”
“Wo ich meinen Hut hinhäng, da ist mein Zuhause.”
Udo Lindenberg
Daheim sein ist schwieriger geworden. Schon zur Schule und dann zur Arbeitsstelle ist anders als früher oft ein weiter Weg zurückzulegen. Die Arbeit ist immer weniger dauerhaft, Kollegen und Kolleginnen verlassen einander notwendigerweise oder freiwillig, eine neue Stelle kann im Ausland liegen. Für viele hat das durchaus den Reiz des Abenteuers. Die globalisierte Welt wird andererseits gleichförmiger, sodass sich in der Ferne Bekanntes wiederfindet: Markenlebensmittel, Kettenläden, internationale Hotels. Auch wenn der berufliche Radius geringer ist, kann die weite Welt über Fernsehen, Radio, Internet, Mobilfunkgeräte jederzeit die private Wohnung in eine exotische Szenerie verwandeln, mit Bildern und Geschichten, die gleichzeitig für Millionen andere Menschen existieren.
Mobil sein ist hoch bewertet, deutlich höher als an einem Ort bleiben. Viel Zeit wird in Fahrzeugen verbracht, oder vom Erdboden abgehoben in Flugzeugen. Die Geschwindigkeit wird kaum zu dem Zweck gesteigert, schneller wieder heimzukommen, vielmehr dazu, weitere Strecken hinter sich zu bringen. So sind Menschen in der Bewegung daheim, mehr und anders als schon immer die nomadischen Völker, die über Generationen dieselben Wege ziehen, ohne Eile, und sich an denselben Rastplätzen niederlassen. Den unruhigen Reisenden des 21. Jahrhunderts bieten ihre bewegten Gehäuse meist nicht die gewohnte Umgebung wie ein Wohnmobil oder ein eigenes Schiff.
Hausboot in der Ostsee bei Wismar (Foto: dumman / pixelio.de)
Wenn schlimmstenfalls Naturkatastrophen oder politische Gewalt Menschen aus der örtlichen, sozialen und kulturellen Heimat vertreiben, sind die Flüchtlinge zur Integration in einem Aufnahmeland mehr oder weniger gezwungen. Das Einleben muss ihnen schwerfallen, solange sie ungewiss auf Heimkehr hoffen. Ihnen fehlen Rechte, teilzuhaben und politisch mitzuwirken, die wichtig sind, damit Einheimische und Zugewanderte in einer Gemeinschaft zu Haus sein können.
Stan Laurel und Oliver Hardy in “Bonnie Scotland”, 1935
Heimat sind Beziehungen, zunächst alles, was Familienangehörige, Freunde und Freundinnen, Bekannte verbindet, auch wenn sie auf verschiedenen Kontinenten leben. Familien sind aber kleiner geworden und weniger verlässlich, Lebenspartner und -partnerinnen trennen sich öfter, und Facebook-Freundschaften sind meistens nicht wirklich welche. Also kommt es darauf an, wie intensiv, empathisch, zuwendend wir miteinander in Beziehung sind.
Als fremd erfährt sich dagegen, wer mit anderen nicht einigermassen den eigenen Bedürfnissen entsprechend kommunizieren kann. Das Gefühl des Fremdseins bleibt, bis ein ausreichendes gegenseitiges Verständnis da ist und es zudem gelingt, sich in entscheidenden Fragen des Miteinanderlebens einig zu sein. Fremdheit ist besonders im Verhältnis zu anderen Menschen zu bewältigen, aber auch im Verhältnis zur Natur und Umwelt. Wissenschaft, Technik, die Zivilisation erschweren eher das Verständnis für die Natur und haben das Auskommen mit ihr zu einer überlebenswichtigen Aufgabe gemacht. Als fremd können Menschen ausserdem sich selbst empfinden, wenn sie die eigenen Motive und Ziele nicht verstehen und nicht bei sich sein können.
“Alles Unglück der Menschen kommt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.”
Blaise Pascal
Unruhe treibt dazu, immer wieder Neues zu erleben und das, was war, zu vergessen; das kann bedeuten, die Mitmenschen und sich selbst zu verlieren. Die globale Wirtschaft funktioniert ähnlich nach dem Prinzip der Innovation um jeden Preis, auf Kosten sozialer Beziehungen, der Umwelt und der Besinnung. Fortschritt ist zweifelhaft, er führt oft in eine falsche Richtung und erfüllt Bedürfnisse nicht. Das Glück wird in der Zukunft erwartet, die Möglichkeiten des Hier und Jetzt werden übergangen.
“Wir haben hier keine bleibende Stadt, denn die zukünftige suchen wir.”
Bibel, Hebräerbrief
Kinder, die mit zu wenig Halt in Familie und Nachbarschaft aufwachsen, leiden auch im späteren Leben mehr unter Ängsten, sind beeinflussbarer und müssen mehr darum kämpfen, ein vertrauenswürdiges Zuhause zu finden und mit anderen und sich selbst klarzukommen. Währenddessen wird öffentlich viel über Sicherheit geredet, weil die Zivilisation ständig neue Gefahren erzeugt. So bleibt die Welt Wildnis, in der immer wieder Plätze zu einem Zuhause kultiviert werden müssen.
“Heimat ist die glückliche Stunde des Daseins. Zur Heimat wird ein allmählich dem Unheimlichen abgerungenes Stück der Welt.”
Alexander Mitscherlich
Gibt es ein virtuelles Zuhause, eine Heimat im Internet - in Gemeinschaften, deren Mitglieder sich kaum jemals wirklich begegnen? Die Kommunikation über Bildschirme ist beschränkt. Berühren lassen sich nur diese Oberflächen. Zusammenhänge zwischen den übermittelten Botschaften und dem Lebensatem sind kaum zu erkennen. Die reale Welt draussen ist weniger kontrollierbar. Dort - daran muss manchmal erinnert werden - ist es möglich, sich in Räumen und Weite spürbar selbst zu bewegen, anderen ins Gesicht zu sehen, mit allen Sinnen wahrzunehmen. Dabei gibt es Wertvolles zu entdecken und zu gestalten.
Sylvie trifft André und Ben in der Stadt, in einer Ausstellung über Architektur. Sie deutet auf ein Bild: “Im Vergleich mit extremen Formen eines Zuhauses kann ich mein eigenes besser bestimmen. Schaut den Säulenheiligen an - sein Wohnturm ist schwer zu ersteigen, der Raum ist minimal, zwischen Erde und Himmel, über den anderen Menschen, zu denen der Mönch nur Sicht- und Sprechkontakt und den der Lebensmittelspenden hat. Es scheint, als sei er zufrieden.”
Der Heilige Simeon Stylites auf seiner Säule in Syrien, gemalt in Armenien im 13. Jahrhundert (Nationalgalerie Erevan)
maximil
[Dazu:
Schneller - wohin und warum?
Fortschritt?
Vor dem Bildschirm]
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