Leben im Augenblick, ohne Gedanken an das Vergangene oder das, was kommt - das ist intensiv, faszinierend, berauschend. Diese Augenblicke sind allerdings in unserer Zeit sehr kurz geworden, einer löst rasant den anderen ab, entscheidend ist mehr das Tempo als das Ereignis. Was vorbei ist, interessiert nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn … Alles vergessen und nichts verstanden?
So geht es auch mit Nachrichten, die ankommen, persönlichen oder politischen: Sie treffen schneller ein als zuvor, in steigender Zahl, und sind so kurz wie möglich, damit die empfangende Person schnell genug auf die nächste Kurznachricht aufmerksam wird. Führend ist dabei der Kommunikationsdienst Twitter, der inzwischen auch vom vermutlich mächtigsten Mann der Erde genutzt wird, und ein grosser Teil der Medien macht es nach. Wie bei Produkten und Unterhaltungsangeboten zählt das Neue, nicht der Wert.
Die Folgen sind zunehmend unbedachte emotionale Reaktionen. Als Reflex auf einen Reiz äußert sich zuerst ein Gefühl, vielleicht verbunden mit einer instinktiven Aktion. Dabei bleibt es, wenn die Zeit oder der Wille zum Nachdenken nicht reicht. Der Mensch lernt nichts. Bewusste Diskussionen, um mit anderen Lösungen zu finden, fallen aus. Die Politik als Angelegenheit der Gemeinschaft versagt.
Verstehen, erfassen, was ein Ereignis bedeutet, womit es zusammenhängt und was daraus werden soll, denken - das braucht Zeit. Und einiges mehr: etwas Ruhe; dann Konzentration; und es braucht die Erinnerung an das, was vorher war. Der Aufwand bringt Wissen, befähigt dazu, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Probleme zu lösen. Vieles wird klar, und Erlebnisse, die sonst flüchtig wären, können dauerhaft und wertvoll werden.
Tanz um einen Freiheitsbaum in Deutschland nach der Französischen Revolution, um 1792/95 (unbekannter Maler)
Aus der persönlichen Vergangenheit entsteht die Identität. Sie ermöglicht ein souveränes Selbstbewusstsein. Wenn in der Gegenwart etwas nicht stimmt, kann die Ursache in der Lebensgeschichte liegen und vergessen sein. Dann empfiehlt es sich, nachzuforschen: Gab es eine verletzende Erfahrung? Wer oder was hat Einstellungen, den Charakter und Verhaltensweisen beeinflusst? Wie kam es zu Mängeln oder Irrtümern? Je besser wir unsere Geschichte kennen, umso freier können wir jetzt entscheiden.
Entsprechendes gilt für die weitere Geschichte einer Gemeinschaft, einer Region, eines Landes, einer Kultur, der Welt. Was wir miterlebt haben, sollten wir bei Bedarf vergegenwärtigen. Das Gedächtnis sagt uns etwas, aber diesmal wollen wir es genauer wissen und erkundigen uns nach Einzelheiten, Gründen, besonders seither gefundenen Erkenntnissen. Was scheinbar ausserhalb der eigenen Erfahrung geschehen ist, hat oft doch mit uns zu tun - umso wichtiger ist, sich fallweise damit zu beschäftigen. So können wir uns in der Welt orientieren. Zudem ist geschichtliches Wissen wie das Foto eines Platzes, das sich in die dritte Dimension öffnet, sodass ich hineingehen kann.
Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.
Kurt Tucholsky
Bevor die Medien etwas angeblich Neues verbreiten, sollten sie recherchieren, wie es sich aus Altem ableitet, was dahintersteckt und wie es mit anderem zusammenhängt. In den Archiven ist viel zu finden, und zum Nachfragen müsste auch Zeit sein. Zum Beispiel stärken Meldungen in Deutschland zu oft die Polemik gegen die Politik Russlands, und dabei wird unterschlagen, dass Deutsche im Zweiten Weltkrieg unzählige russische Menschen getötet und das Land verwüstet haben - die Opfer und ihre Nachkommen erinnern sich noch.
Wer eine Ahnung von den historischen Wurzeln der Zivilisation hat, kann sich besonders darüber wundern, dass die USA als eine der jüngsten Nationen den Irak bombardiert und in anhaltendes Chaos gestürzt haben, das Land der ältesten Kulturen, die für Europa und Amerika bedeutend waren. Ähnliches lässt sich im Umgang Europas mit Griechenland feststellen, dem wir einen grossen Teil unserer Kultur zu verdanken haben.
Das ist nicht mehr vielen bekannt. Dieses Wissen gehört zur humanistischen Schulbildung, die aufgrund der Herrschaft der Ökonomie von den Naturwissenschaften, der Informatik und Wirtschaftsausbildungen verdrängt wird. Mit ihr ist das Fach Geschichte auf dem Rückzug. Allerdings haben die Schulen Geschichte zu oft als langweiligen Stoff dargeboten. Auf den Bezug zum Leben kommt es an. Viele Museen lassen Geschichte erleben und sind mit bunten Inszenierungen oft das andere Extrem gegenüber dem dozierenden Unterricht. Die Schulen sollten die Museen mit ihren Mitmachwerkstätten mehr nutzen und das Erlebte erklären.
Geschichtliche Erkenntnisse werden ausserdem auf verschiedene Weise anschaulich vermittelt. Gebäude und Geräte sind Dokumente, private Erbstücke zeigen die Herkunft der Familie, alte Menschen erzählen als Zeitzeugen, Gemälde, Romane und Filme berichten von anderen Zeiten und Gegenden. Überall lassen sich Spuren, Zeichen, Geschichten entdecken, wahrnehmen und auch geniessen.
Daraus wird die eigene Geschichte, die weitergeht, und ein reicheres Leben im Hier und Jetzt.
Matthias Kunstmann / maximil
[Dazu:
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