Die Welt ist voll von Zahlen: Es gibt Messwerte, Bilanzen, Inzidenzen, Umsätze, Bevölkerungszahlen, Sportergebnisse, Rekorde, Quoten, Dunkelziffern … Ist die Welt wirklich so? In der Natur gibt es Zahlen nicht. Da gibt es Organismen, einzelne, wenige oder viele, mit Unterschieden, es gibt Formen, Strukturen und Beziehungen, aber es wird nichts gezählt oder gemessen, es werden keine bestimmten Grössen oder Längen festgestellt, schon gar nicht in Meter und Kilometer. Die Zahlen sind eine menschliche Idee, ebenso das Messen und Rechnen.
Besonders die Naturwissenschaften, aber auch die Soziologie und die Ökonomie sind auf Zahlen fixiert. Indem diese Bereiche in der Zivilisation entscheidende Bedeutung erlangt haben, statteten sie die Welt mit Zahlen aus. Zahlen sind beeindruckender geworden als Erklärungen. Sie erscheinen inzwischen auch wichtiger als menschliche Werte.
Das zeigt sich meist, wenn Effizienz gefordert wird: Dann werden Zahlen zum Mittel, um einen angeblich unrentablen Betrieb zu schliessen, um in Krankenhäusern die Arbeit des medizinischen und pflegerischen Personals bis zum Gehtnichtmehr zu verdichten oder um riesige Tiermastanlagen zu bauen. Sobald Werte wie humane Arbeit oder Respekt vor der Natur einbezogen würden, wäre dergleichen nicht mehr effizient.
Paul Klee, »Station L 112, 14 km«, 1920
Die Welt verstehen, das ist mit Zahlen eher nicht möglich. Auf jeden Fall ist es nötig, Zähl- und Messergebnisse zu interpretieren. Es kommt darauf an, verschiedene Arten von Beobachtung und Wissen zu verbinden und daraus nachvollziehbare Schlüsse zu ziehen. Wo das unterlassen wird, ergibt sich ein moderner Glaube an Zahlen, in dem alte magische, fetischistische und quasi-religiöse Vorstellungen in neuer Form wiederkehren.
Früher hatten bestimmte natürliche Zahlen symbolische Bedeutungen, die teils noch gelten: Die Drei stand für das Vollendete, Heilige, Vier war die Zahl der Welt und ihrer Gegensätze, Sieben symbolisierte die geordnete Schöpfung. Inzwischen werden verschiedenste (rationale) Zahlen bei jeder Gelegenheit als Mess- und Vergleichswerte für alles Mögliche verwendet; dabei werden sie zum Selbstzweck, die Quantität wird entscheidend für Urteile, beliebige Zahlen (vor allem Zehnerpotenzen) werden mit Bedeutung aufgeladen und überhöht. Dann wird gemeldet: »Marke von einer Million überschritten« …
Der Zusammenhang mit dem Geld als Messgröße und Gegenwert ist evident. Am Beispiel des Bruttoinlandsprodukts ist bekannt, wie willkürlich dabei gerechnet werden kann: Die Zahl soll den Wohlstand einer Gesellschaft beziffern, enthält aber vieles, was schadet, und enthält vieles nicht, was Menschen für ihr Wohlergehen schätzen.
Die Zeit ist ebenfalls zahlenmäßig normiert und damit werden Menschen unter Druck gesetzt. In der Geschwindigkeit wird sie auf möglichst schnell zurückzulegende Wege bezogen. Und derart ist die Zeit besonders auf den sogenannten Fortschritt ausgerichtet.
Mit Ranglisten wird versucht, aus Kennzahlen Qualität abzuleiten. In hohem Mass eignen sich Statistiken und entsprechende Schaubilder, um die Wirklichkeit eindrucksvoll zu verzerren und falsche Beweise vorzulegen. Je nach den grafischen Abständen der Mess-Einheiten in einem Diagramm wird eine Kurve steiler oder flacher - dies ist nur ein Beispiel. Obwohl sehr fragwürdig und interpretationsbedürftig, war in der »Tagesschau« die Corona-Statistik über viele Monate ein tägliches Ritual.
An der europäischen Zivilisation ist seit Langem festzustellen, dass sie sich zunehmend für das Materielle, das Zähl- und Messbare interessiert und das weniger Fassbare der Welt entweder auf Zahlen zurückführen will oder immer weniger beachtet. Ihre zweckrationale Naturwissenschaft befasst sich unter dem Einfluss der Wirtschaft weitgehend mit der Technik, die schliesslich Menschen überflüssig macht, und mit dem, was sich zu Geld machen lässt. Der Geist verflüchtigt sich. Ganzheitliches Denken ist seltener denn je, und Sinn stiften wird sehr schwierig.
Die Mathematik ist weit überbewertet. Wenn es um Allgemeinbildung geht, gehört mehr als praktische Grundlagen des Rechnens nicht an die Schulen, damit da Lebenswichtiges und bisher Vernachlässigtes ausreichend Platz findet: Medizin/Gesundheitskunde, Psychologie/Kommunikation, Politik, Recht, Wirtschaftskunde, Philosophie/Ethik, Kunst/Theater/Film.
Auch der Wohlstand mit der Fülle der Angebote für Konsum, Unterhaltung und Aktivitäten geht auf Kosten des Verstandes, der meistens nur noch dazu benutzt wird, Vorteile zu gewinnen. Wirklich wichtig und bereichernd ist er aber für genaueres Verstehen, für das Verständnis des eigenen Lebens, des Miteinanders und von Zusammenhängen, für kritische Auseinandersetzung, für Bewusstsein.
Matthias Kunstmann / maximil
[Dazu:
Alle gewinnen mit Empathie
Wozu Wissenschaft nützt
Fortschritt?]
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