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Kultur für alle

27. Januar 2011


Bücherschrank auf dem Karlsruher Werderplatz

Kultur ist für alle da. Im Prinzip. Aber es kommen nicht alle überall ran, zum Beispiel zu Wagner in Bayreuth oder an einen Picasso fürs Wohnzimmer. Öffentliche Bibliotheken und Museen waren lange kostenlos zugänglich, in den letzten Jahren wurden in den meisten von ihnen Gebühren eingeführt. Erfreulich, dass weiter Konzerte mit freiem Eintritt angeboten werden und manches Museum wenigstens an einem Tag in der Woche kostenfrei offen ist. Dazu schenkt das Internet Texte, Filme, Tondokumente, Wikipedia.

Ein Bücherschrank auf einem Platz ist mehr als das. Wetterfest, rund um die Uhr zu öffnen, Bücher können gratis mitgenommen und nach Belieben zurückgestellt oder eigene dazugebracht werden - das ist auch ein Symbol. Kultur gehört unübersehbar mitten ins Leben, alle können an der Literatur teilhaben, ein Buch ist etwas zum Festhalten. Und zum Austausch. Auf dem Platz reden die Leute seitdem vielleicht öfter über Lese-Erlebnisse.

maximil

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Wenn die Medien ausfallen

17. Januar 2011

Keine Nachrichten. Im Radio ist nur Rauschen, auf dem Fernsehbildschirm Flimmern, statt Internetverbindung wird ein Ladefehler angezeigt. Die letzte E-Post ist von gestern, das Telefon bleibt ruhig, neue Zeitungen und Zeitschriften gibt es nicht. Wir sprechen darüber, fragen einander, rätseln, Gerüchte gehen um, aber langsam lässt das Interesse nach. Sonst fehlt uns nichts, Lebensmittel sind erhältlich, Arbeit ist zu leisten, die Kinder lernen in der Schule, Leute treffen sich in Lokalen, feiern Feste, in der Nachbarschaft und auf den Plätzen ist immer etwas los. Neuigkeiten brauchen wir nicht, wir leben im Hier und Jetzt, dabei regeln wir alles Wichtige.

Ein Gedankenexperiment. Sind die Menschen dann dumm, wenn sie nichts Neues erfahren, nichts mitbekommen aus dem Rathaus, dem nächsten Ort, der Hauptstadt, aus anderen Ländern, ausser sie begeben sich selbst dorthin? Nicht unbedingt, denn vom gegenwärtigen Leben, seinen Konflikten und verschiedenen Lösungen wissen sie viel. Sie beschäftigen sich mit der Natur, dem Sport, der Kunst. Auch von der Geschichte verstehen sie etwas, lesen Bücher, entdecken vielleicht im Kino einen bisher selten gezeigten alten Film, denken über das Glück nach.

Wenn keine Nachrichten kommen, kann es so scheinen, als würden auch woanders Konflikte irgendwie gelöst, als würde die Regierung akzeptabel funktionieren, als würde die Menschheit jede Katastrophe überstehen…

Doch, wir wollen die Welt kennen. Was woanders nicht geregelt ist, kann Folgen für uns hier haben. Das Ungewohnte erinnert daran, dass wir in unserem Bereich etwas verändern können. Wir brauchen Informationen, um richtig zu reagieren und etwas zu verbessern. Wie Menschen in anderen Kulturen sich verhalten, zeigt, dass es viele Möglichkeiten gibt.

Leider können wir viel wissen, aber das heisst noch längst nicht, dass wir dementsprechend mitbestimmen können: weil das Recht oder die Mittel es nicht erlauben. Deshalb sind Nachrichten oft eher Grund zur Klage als Anreiz zum Handeln.

Der Medienausfall ist vorüber. Es wird weiter berichtet. Auch über Geschehnisse und Zusammenhänge, die zu wenig beachtet werden, lässt sich etwas herausbekommen. Trotzdem - es war angenehm, einmal abzuschalten und durchzuatmen…

> Marietta Slomka, “Nachrichtenblock” (Die Zeit 22.4.2004)

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Auf dieser Route (aus “Statumania”)

25. November 2010

Sylvie Natalicia

Auf dieser Route könne nichts geschehen, hatte er gesagt. Später wurde erzählt, er habe eine auf keiner Karte eingezeichnete Passage gefunden.

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Schneller - wohin und warum?

4. November 2010

Schnell sein ist ein Vorteil bei Konkurrenz: Wer zuerst da ist, wo es etwas zu holen gibt, kann das Beste oder alles bekommen. Schnell sein ist auch ein Vorteil im Kampf und auf der Flucht. Allerdings kommt es in solchen Situationen mindestens ebenso auf anderes an: stark, geschickt, klug sein. Besser, als auf Sieg und Gewinn zu setzen, ist es in der zivilisierten Welt überhaupt, das gemeinsame Interesse zu beachten.

Schnelligkeit kann jedenfalls auch ein Nachteil sein. Im Verkehr bedeutet hohe Geschwindigkeit zum Beispiel ein erhöhtes Unfallrisiko. Im Arbeitsleben wird Tempo auf Dauer belastend. Hektik nervt - Nutzen und Schaden stehen in einem schlechten Verhältnis. Wenn schneller gehandelt als gedacht oder gefühlt wird, in Momenten, in denen neuen Herausforderungen nicht mit Routine begegnet werden kann, entstehen Fehler. Unüberlegtes Reagieren, bei dem der Instinkt in die Irre führt und keine Intuition hilft, nennt sich im Extremfall Panik. Sie ist gefährlicher als die Ausgangslage und hat meist üble Folgen. Rettend ist dann, Ruhe zu verbreiten.

Schnelligkeit ist also kein objektiver Wert. Aber offenbar läuft vieles immer schneller ab. Unsere Geschichte beschleunigt sich: Das Wachstum der Bevölkerung in grossen Teilen der Erde wird immer schneller, der technische Fortschritt, die Warenproduktion, die Dienstleistungen, die Rechner und Datenverbindungen, die Informationsübermittlung, politische Reformen, der Wechsel von Arbeitsplätzen, Partnerschaften und Lebensstilen, die Klimaerwärmung, das Verschwinden der Urwälder, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten. Vieles geschieht schneller, als wir es verstehen. Können wir da unsere eigene Geschwindigkeit noch selbst bestimmen?

Die Finanzkrise 2007/2008 war ein Ergebnis dieser globalen Beschleunigung. Transaktionen waren so komplex und liefen so schnell ab, dass sie nicht mehr nachvollzogen, gesteuert und kontrolliert werden konnten. Schliesslich wurde das katastrophale Tempo der ökonomischen Gewinnerzielungsprozesse der Politik aufgezwungen. In Deutschland sollte die Regierung angesichts der drohenden Pleite einer Bank, die als “systemrelevant” galt, über Nacht eine Lösung finden. Eine vernünftige Analyse, Beratung und Konzeption waren so schnell nicht möglich. Die Regierung der Grossen Koalition liess sich von der Bankenlobby erpressen, ebenso folgte die Mehrheit des Bundestages Hals über Kopf innerhalb einer Woche deren Vorgaben und zahlte trotz knapper Kassen Milliarden Euro zur angeblichen Rettung des Finanzsystems, in dem damit Private weiter auf Kosten der Allgemeinheit Profit machen können.

Ein Moratorium, eine Denkpause wären sinnvoll gewesen. Wenn etwas falsch läuft, ist es nötig, zu bremsen. Wir sollten uns nicht hetzen lassen. So wie die Menschen in Afrika, von denen erzählt wird, dass sie eine Expedition von Europäern begleiteten, aber nach einem Stück schneller Reise sich niedersetzten und auf die Frage, warum sie nicht weitergingen, sagten: Unsere Seele muss erst nachkommen.

Es ist Zeit, zu entschleunigen, dem Druck zu besinnungsloser Eile zu widerstehen, wieder den Rhythmus zu finden, der dem Leben gemäss ist. Langsamkeit wird inzwischen zu einem Qualitätsmerkmal.  Langsam sein ermöglicht, den Wert erfüllter Zeit zurückzugewinnen.

In unangenehmer Zeit wird gewünscht, dass sie schnell vergeht. Es scheint, als sei den Menschen der modernen Zivilisation die meiste Zeit lästig, sodass sie ständig Neues ersehnen. Währenddessen vergeht das Leben unbemerkt. Gute Zeit dagegen, dies ist Konsens, soll dauern: ein schöner Urlaub, eine begeisternde Tätigkeit, eine Liebe. Der intensiv erlebte Augenblick soll bleiben. In solcher Musse ist es möglich, die Welt, die Menschen um uns und uns selbst wahrzunehmen. Und wir können das Leben wirklich geniessen.

Dafür gibt es Gelegenheiten.

Mit dem guten Essen wurde ein Anfang gemacht. Veranlasst durch den Wohlstand, der die verschiedensten Nahrungsmittel reichlich bereitstellt, und durch das ökologische Bewusstsein hat sich als Alternative zum Fast-Food-Konsum die Slow-Food-Bewegung gebildet. Erst sehen und verstehen, was die Natur, die Agrikultur und aus beidem schöpfende Menschen bieten, die feinen Unterschiede beobachten, die Geschichte der Lebensmittel kennen, dann bewusst auswählen, wenn möglich selbst zubereiten, komponieren und auftischen - das ist der Weg zum entspannten und inspirierten gemeinsamen Tafeln, mit Schauen, Schmecken, Teilen und Kommunizieren. Dergleichen geht nicht nur an Feiertagen, es gehört zu einem Lebensstil der Achtsamkeit, der selbstbestimmt Besonderheiten und Vielfalt wertschätzt und zwanglos für die Gesundheit und das Wohlbefinden auch der Mitmenschen und der Umwelt sorgt.

Cittaslow - auch diese Idee kommt aus dem kultursinnigen Italien. Ganze Städte verschreiben sich die Langsamkeit. Die Beteiligten da wissen: Die Geschwindigkeit, die international alles mit sich reisst, macht gleichförmig und langweilig. Statt hektischem Betrieb wollen sie angenehme Lebensbedingungen, einen ruhigen Rhythmus, Arbeiten und Wirtschaften in naturnahen regionalen Kreisläufen, um dabei den unverwechselbaren Charakter ihrer Stadt zu entwickeln.

Die Medien sind so schnell geworden, dass Informationen sofort weltweit bekannt werden - und dass es extrem schwierig geworden ist, in der Masse der Einzelheiten das Richtige und das Falsche zu unterscheiden und das wirklich Wichtige herauszufinden. Darauf reagieren die Initiativen für Slow Media. Damit immer Neues, aber Unerhebliches nicht das Bedeutsame vergessen lässt, bemühen sie sich um die fundierte, zusammenhängende, klare Information. Sie wollen das Verstehen fördern, Orientierung vermitteln, zur Bildung beitragen und zum verantwortlichen Handeln anregen.

Auch dieses Blog im schnellen Internet soll dementsprechend ein langsames Medium sein…

> Slow Food

> Cittaslow

> Slow Media Manifest

> Axel Hacke, “slow reading” (SZ-Magazin)

> Greenpeace-Magazin 1/2011

Sten Nadolny, “Die Entdeckung der Langsamkeit”, München 1983

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Rhythmusstörung

1. November 2010

Die Zeitumstellung, bei der die Uhren soeben europaweit wieder um eine Stunde von “Sommerzeit” auf  “Normalzeit” umgestellt wurden, stört. Manchen Menschen macht sie nichts aus, aber für viele ist der Rhythmusfehler unangenehm und belastend, weil sie biologisch Gewohntes wie Schlafen und Essen anpassen und wieder in den Takt bringen müssen. Besonders für Kinder und damit auch für die Eltern ist das schwierig. Und wozu der ganze Aufwand? Er fällt umso schwerer, als er keinen nachweisbaren Nutzen hat.

Früher war die Begründung, dass mit der Sommerzeit Energie gespart werden sollte. Davon abgesehen, dass das auch für den Winter gelten müsste, hat sich das Argument als haltlos erwiesen. Andere mögliche Vorteile werden von den Nachteilen mehr als ausgeglichen.

Die ersten Staaten, die im Sommer die Zeit geändert haben, waren Deutschland und Österreich-Ungarn - und zwar 1916, mitten im Ersten Weltkrieg. Die USA haben damals nachgezogen. Nach dem Krieg wurde die Regelung wieder abgeschafft und im Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten erneut praktiziert. Diese Kriegszeit hat die Politik in Europa anlässlich der Ölkrise der 1970er-Jahre wieder eingeführt, mit einer Ausnahme: Island. Nur in der Schweiz gab es eine Volksabstimmung, sie verzögerte dort die Einführung der Sommerzeit um drei Jahre.

Ohne Grund wird Hunderten Millionen Menschen zweimal jährlich ein Zeitsprung zugemutet, dem sie nicht ausweichen können. Dies spricht gegen die menschliche Vernunft - solange, bis es geändert ist.

> Der Kampf gegen die Zeitumstellung (ORF)

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Fällige Kritik des Wachstumsdenkens

17. September 2010

Wenn Lebewesen wachsen, ist das wunderbar.  Ein Kind wächst: Es entwickelt sich, gewinnt Fähigkeiten, lernt. Weizen wächst, bis die Körner reif sind und von Menschen als Lebensmittel geerntet werden können. Da nutzt ein Lebewesen ein anderes für sein Wachstum. In der Natur gibt es Werden und Vergehen und neues Wachsen. Bei vielfachem Austausch findet immer wieder ein Ausgleich statt. Die Bäume wachsen nicht in den Himmel, heisst es sprichwörtlich.

In der Wirtschaft und ihrer Politik soll es anders sein. Immer grösser, immer mehr, immer mächtiger, solche Ergebnisse werden gewünscht: grössere Unternehmen, grössere Einkaufszentren, grössere Kraftwerke, mehr Strassen, mehr Bildschirme, vor allem mehr Geld. Sobald ein Ziel erreicht wird, ist es schon überholt. Das Ganze läuft immer schneller ab. Wohin führt das?

Dieses Wachstum bringt Wohlstand, Gesundheit, Freiheit, Luxus - einerseits. Andererseits bringt es, wie wir wissen, Luftverschmutzung, abgeholzte Wälder, Ölpest, Allergien und andere Zivilisationskrankheiten, Stress und Leistungsdruck, Armutsfluchten, Sinnkrisen. Lebensgrundlagen gehen verloren. Die Wirtschaftsweise, die derart unweise Wachstum betreibt, hat offensichtlich eine katastrophale Bilanz und setzt dabei auch den erreichbaren Wohlstand aufs Spiel. Zudem ist bekannt, dass ab einem gewissen Standard Wohlstandszuwächse nicht mehr glücklicher machen. Trotzdem wird in der Politik weiter das Wirtschaftswachstum beschworen.

Nur mit ihm gebe es Arbeitsplätze und Einkommen, wird gesagt. Aber hohe Unternehmensgewinne ermöglichen erst, in Maschinen und Rechner zu investieren und damit Arbeitsstellen wegzurationalisieren. Neue Arbeitsplätze werden überwiegend zu schlechteren Bedingungen als zuvor angeboten. Zugleich fliessen Milliarden-Geldströme in Finanzgesellschaften und werden auf Kosten der Allgemeinheit verspekuliert.

Den Massen von neuen Konsum-Produkten mit entsprechendem Umweltverbrauch, aber oft ohne Zusatznutzen wird gern das qualitative Wachstum entgegengehalten. Effizienterer Rohstoffeinsatz, erneuerbare Energien, Digitalisierung, Medientechnik, mehr Dienstleistungen sollen für mehr Wohlstand sorgen und schädliche Folgen vermeiden. So richtig viele dieser Ansätze sind, es wird doch inzwischen deutlich: Sie wirken nicht wie erwartet und nötig, solange mit wirtschaftlichem Wachstum gerechnet wird. Ein-Liter-Autos für Milliarden Menschen brauchen eine aufwendige Verkehrsinfrastruktur, Rechner und Medien verbrauchen ebenfalls Material und Energie, Dienstleistungen treiben oft wieder einen hohen Verkehrsaufwand.

Es wird auf einen anderen Lebensstil ankommen. Wo materielle Bedürfnisse überbewertet worden sind, lassen sich wichtigere Werte entdecken. Menschliches Miteinander, freiwilliger sozialer Einsatz, Natur und Kultur erleben, Bildung - das macht eher zufrieden. Genuss ist nicht auf Reichtum angewiesen. Weniger kann mehr sein, nämlich wenn es besser ist.

Eine entsprechende Weise des Wirtschaftens richtet sich nicht auf Wachstum, sondern auf Gleichgewicht. Die Beziehungen und der Austausch zwischen den Beteiligten und mit der Natur sollen stimmen. Dynamik kommt dabei in Kreisläufen zum Zug.

Die Wachstums-Ideologie ist zu verabschieden - dann kann das, was uns wirklich guttut, wachsen.

> Niko Paech: Postwachstumsökonomie

> Denkwerk Zukunft

> “Wachstum bis zum Kollaps?” (Kontext-TV 6.6.2011)

Erich Fromm, “Haben oder Sein”, DTV 2005

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[Dazu: Fortschritt?
Geld fehlt Wert
Was tun für gutes Leben?]

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Fortschritt?

16. September 2010

“Der Europäer ist zwar überzeugt, nicht mehr das zu sein, was er vor Alters gewesen ist, weiss aber noch nicht, zu was er inzwischen geworden ist. Die Uhr sagt es ihm, dass sich seit dem so genannten Mittelalter bei ihm die Zeit und ihr Synonym, der Fortschritt, eingeschlichen und ihm Unwiederbringliches genommen haben. Mit erleichtertem Gepäck setzt er seine Wanderung nach nebelhaften Zielen mit progressiver Beschleunigung fort.”
Carl Gustav Jung, “Erinnerungen, Träume, Gedanken”

Der Fortschritt hat Wohlstand und Glück gebracht. Es wird verlangt und erhofft, dass er mehr davon bringt. Aber mit weiter zunehmendem Wohlstand werden die Menschen nicht glücklicher, wie sozialpsychologische Untersuchungen zeigen. Was läuft da schief?

Als die Fortschritts-Idee im 18. Jahrhundert aufkam, war daran gedacht, dass die Vernunft sich durchsetzen sollte: Sie sollte die materiellen und sozialen Lebensverhältnisse der Menschheit optimieren. Zu den Ergebnissen gehören Elektrogeräte, Automobile, Sozialversicherungen - und Umweltprobleme, Weltkriege, Elendsviertel.

“Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression.”
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, “Dialektik der Aufklärung”

Wie sieht es in den letzten 20 oder 30 bewusst erlebten Jahren aus? Sichtbar ist, dass Siedlungen, Gewerbegebiete und Verkehrswege Naturlandschaft verschwinden lassen. Weniger sichtbar ist, dass trotz steigenden Bruttoinlandsprodukts sich Armut ausbreitet. In vielen Bereichen wird mehr Arbeit für weniger Geld verlangt. Die volle Rente wird erst mit 67 Jahren gewährt. Die soziale Unsicherheit wird grösser, weil Arbeitsverhältnisse kaum noch Dauer haben. Der Zwang zur beruflichen Flexibilität ist aufreibend.

Der materielle Reichtum der Gesamtgesellschaft zeigt sich in luxuriösen Einkaufszentren und angelegten Milliardenvermögen. Trotzdem spart der Staat am Sozialen, an öffentlichen Einrichtungen, an der Kultur. Es fehlen Stellen in Kindertagesstätten, in Schulen, in der Pflege, in der Sozialarbeit, bei der Polizei, bei der Justiz. Verbraucherberatungen, Bibliotheken und Museen, die kostenlos nutzbar waren, haben Gebühren und Eintrittsgelder eingeführt.

Einrichtungen von denen finanzieren zu lassen, die sie nutzen, könnte sinnvoll sein, wenn staatliche Steuerung durch genossenschaftliche Selbstorganisation abgelöst werden sollte. Dazu müsste aber der gesellschaftliche Reichtum einigermassen gleichmässig verteilt sein, sonst sind die Chancen der Teilhabe ungleich - diese Ungerechtigkeit ist jetzt wie schon lange der Fall.

Kinder und Jugendliche verwahrlosen, weil Eltern aus verschiedenen Gründen immer häufiger mit der Erziehung überfordert sind und ihnen die Gemeinschaft nicht hilft. In der Bildung werden ebenfalls aus mehreren Gründen die Defizite grösser. Sie wird oft nur noch als Ausbildung für die Zwecke des Arbeitslebens verstanden. Sprach-, Schreib- und damit Kommunikationsfähigkeit sind auch bei akademisch (Aus-)Gebildeten oft schwach.

Zum Glück lässt sich bei einer Bilanz des Fortschritts auch Positives feststellen. Der öffentliche Regionalverkehr ermöglicht inzwischen fast überall eine vernünftige, bequeme Mobilität. Auch der Fernverkehr mit Bahn und Flugzeug ist schneller, komfortabler, billiger geworden, aber das ist wieder kein sinnvoller Fortschritt: Besonders beim Fliegen ist der Saldo von Nutzen und Umweltschäden ungünstig, zum Teil gehören Fernreisen zu den überflüssigen Wohlstandsgewinnen, und zum Teil werden mit ihnen Bedürfnisse befriedigt, die es zuvor nicht gegeben hat. Auch die regionale Infrastruktur wird genutzt, um Arbeitsstätten verlegen oder zentralisieren zu können, so dass Beschäftigte über längere Strecken pendeln müssen. Solange diese Verkehrsbedingungen nicht bestanden haben, hat die Wirtschaft auch funktioniert.

Es gibt ein grosses Angebot von Bio-Produkten, vor allem an Lebensmitteln, weniger an Textilien, Möbeln und Haushaltswaren. Die Landwirtschaft produziert vermehrt ökologisch. Bemühungen um Naturschutz haben Erfolg. Diese Fortschritte sind leider relativ, denn weltweit gesehen kontrastieren damit die Rodung von Tropenwäldern für Plantagen und der massive Anbau von gentechnischen Pflanzen besonders in Amerika und Asien. Historisch betrachtet wird mit der Öko-Landwirtschaft wieder eine Arbeitsweise erreicht, die vor der Erfindung der Agrarchemie üblich war.

Die Medizin kann mit neuen Therapien helfen. Jedoch treten Krankheiten und Leiden psychischer Art auf, die früher so nicht bekannt waren: Allergien; Beschwerden durch die Wirkungen von Chemikalien,  Radioaktivität, elektromagnetischen Strahlen, Lärm, beruflichem Stress; Ess- und andere Verhaltensstörungen besonders bei Kindern und Jugendlichen. Dafür werden noch kaum zureichende Behandlungen angeboten.

Für die Menschenrechte gibt es mehr Sensibilität. Minderheiten und unkonventionelle Lebensweisen bekommen mehr Respekt. Die Verständigung zwischen Kulturen wird gefördert. Demokratie ist international ein wichtiges Thema.

Andererseits: Gerade in den traditionell demokratischen Staaten Europas werden die vorhandenen Entscheidungsrechte der Bürgerinnen und Bürger immer mehr beeinträchtigt. Einmal wurde mit Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung in wichtigen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft der Einfluss des Staates und seiner gewählten Organe reduziert; stattdessen entscheidet Konkurrenz mit Vorteilen für die Mächtigen. Interessengruppen gelingt es verstärkt, hinter den Kulissen Beschlüsse von Regierungen und Parlamenten vorzubereiten. Viele Entscheidungskompetenzen sind von Deutschland auf die EU und andere internationale Organisationen übergegangen, die nur mangelhaft demokratisch legitimiert sind.

Zwischen den Weltkulturen des Westens und des Islams wird ein verschärfter Konflikt ausgetragen, der bis zu Terror- und Militäraktionen geht. Und Deutschland führt sei 1999 wieder Kriege, erst in Serbien, dann in Afghanistan - schlecht für Völkerrecht und Menschenwürde.

“Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ’so weiter’ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.”
Walter Benjamin, “Zentralpark”

Wir haben das Internet! Das ist ein Fortschritt von Wert - auch wenn er nicht unbedingt mit Vernunft zu tun hat. Mit dem weltweiten Netz ist das Wissen der Menschheit für fast alle zugänglich und verfügbar geworden. Das Chaos ist auch darin, das einen Teil jedes menschlichen Gehirns beansprucht. Dennoch, da ist ein unglaublicher Reichtum mit ungeheuren Möglichkeiten. Hoffentlich können wir damit etwas Vernünftiges anfangen.

Mit oder ohne Netz und doppelten Boden ist der Fortschritt zwiespältig - so wie auch das Wachstum, das für die Wirtschaft weiterhin beschworen wird, als ob der erwirtschaftete Reichtum nicht längst gross genug wäre, und als ob Verantwortungsbewusste nicht längst auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen hätten. Angeblich kann der Lebensstandard nur durch Mengenwachstum gesichert werden - eine absurde Behauptung. Jahrtausendelang hat Wirtschaft anders und besser Werte geschaffen, in natürlichen Kreisläufen und Zusammenhängen. Das Konzept des qualitativen Wachstums versucht, sich darauf zu beziehen. Es ist wichtig zu erkennen, was unterstützenswert ist.

“An Fortschritt glauben heisst nicht glauben, dass ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.”
Franz Kafka, “Beim Bau der Chinesischen Mauer”

maximil

Erste Fassung 9.10.2009

[Dazu: Wird etwas besser?]

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Sommer (aus “Laudes”)

10. August 2010

Hell und heiss ist es draussen,
mild im Widerschein unter dem Ziegeldach.

Früh hat der Tag schon angefangen
mit etwas Frische
und dunstigem Blau,
nun ist er weit in alle Richtungen,
ins Unendliche oben,
Rufe sind selten und bedeutungsvoll,
Gedanken überraschen,
dann ist wieder Stille,
ein Glas Wasser ist die Mitte der Welt,
ich kann es fassen.

Unter Platanen sitzen wir,
in der aufgeladenen Luft,
während der Tag sich hinzieht,
ohne Rand,
über verschwommene Horizonte,
es wird getafelt, beraten und gelacht,
und nebenbei ein Blick und mehr -
dann wird geschaut,
wie sich der Himmel sanft herabsenkt.

André Schmidt

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Geschichte von einem Einsiedler (Le chant de l’hermite)

17. Juli 2010

Ich habe von einem Einsiedler gehört, ich weiss nicht, ob er vor langer Zeit gelebt hat oder ob er noch lebt. Der Einsiedler siedelte also einzeln, allein, das heisst er wohnte irgendwo möglichst weit weg von anderen Menschen, in einer einsamen Gegend, wo gibt es so eine heute noch? Wahrscheinlich liebte er die Natur. Er lebte da, um das Leben zu spüren - vermute ich.

Es gibt aber auch Einsiedler und Einsiedlerinnen, die Wand an Wand mit anderen Menschen wohnen, zu denen sie keine Beziehungen haben. Manche Einzelkinder leben schon so, allein vor einem Bildschirm, der ein Tor ist, das weit offen vor einer geheimnisvollen Welt zu sein scheint, aber das täuscht leider. Aus Sicherheitsgründen werden Zugänge gesperrt, und es nützt dir nichts, wenn du sie umgehst, du verirrst dich und es drohen Fallen.

Früher waren Einsiedler oft religiös. Sie wollten wissen oder fühlen, was wichtig ist: Kosmos, Gott, das Leben. Darüber lässt sich aber schwer etwas Eindeutiges sagen.

Der Einsiedler, von dem ich erzählen will, hatte sich vorgenommen, jeden Tag etwas aufzuschreiben, was ihm gefallen hat. Wenn ihm das Essen geschmeckt hat, schrieb er darüber am Abend in ein Buch mit anfangs leeren Seiten, und er versuchte auch, den Geschmack und seine Empfindungen zu beschreiben. Wenn er etwas Neues gelernt oder erfahren hat, schrieb er es auf. Oder er hat an einem langen Sommerabend geglaubt, dass die Zeit still steht und es gut ist so - dann hat er das in Worte gefasst und mit Tintenstift aufs Papier gebracht. Er wollte das Wohltuende dokumentieren und damit festhalten, denn er dachte, er würde es einmal wieder brauchen können, oder jemand sonst. Er fühlte sich wohl dabei.

An einem Abend wollte er gerade eine Musik beschreiben, die ihn begeistert hatte, da ging ihm die Tinte aus. Er hatte keine andere Mine mehr im Haus, auch keinen anderen Stift und keine Tastatur. Der nächste Schreibwarenladen war Kilometer weit entfernt und ausserdem schon zu. Nachbarn gab es nicht. Der Einsiedler war beunruhigt.

Würde sein Musikerlebnis nun sang- und klanglos verschwinden? War diese Blockade nicht sogar ärgerlich? Vielleicht sollte er das, was er schreiben wollte, wenigstens aussprechen - so würde der Schall seiner Worte in die Atmosphäre, die Natur, die Welt hinein wirken. Das wäre allerdings kaum nachvollziehbar, überlegte er kritisch, aber womöglich direkter und dynamischer als ruhende Schriftzeichen. Und es entsprach den Klängen, die der Anlass seines Formulierens gewesen waren.

So sprach er sein Lob der Musik durch ein geöffnetes Fenster in die nur von einem leichten Wind bewegte Abendluft, deutlich, etwas ins Singen kommend, und schliesslich schien der Horizont der Hügel leise zu schwingen.

Als der Einsiedler sich schlafen legte, spürte er Zweifel. Das Gesprochene akustisch aufzeichnen, das wäre schon sicherer. Er hatte dafür kein Gerät, nicht einmal ein Telefon, mit dem er seinen Text auf einen Anrufbeantworter hätte sprechen können.

Am nächsten Tag verliess der Einsiedler sein Haus in den Hügeln und ging auf eine Reise, um eine alte Freundin zu besuchen und ihr zu sagen, was ihm wichtig war.

Jedenfalls habe ich die Geschichte so verstanden.

Claire Destinée

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Theater für Menschenrechte

8. Juni 2010

Anders als Fernsehen oder Internet kann Theater ein Thema, eine Angelegenheit, eine Geschichte in nächster Nähe darstellen. Die Zuschauenden können sogar zu Mithandelnden werden. Theater führt Möglichkeiten vor. Damit löst es bei seinem Publikum Gedanken und Emotionen aus, die sich auf das reale Leben danach auswirken. Eine politische Theatertruppe wie die “Berliner Compagnie” lässt auf einen Auftritt Diskussionen folgen, und gelegentlich schliesst sich eine gemeinsame Aktion an.

Die “Berliner Compagnie” macht seit 1981 Theater für Menschenrechte, Frieden und Entwicklung. Sie beruft sich auf das epische Theater von Bertolt Brecht, das Dokumentartheater von Peter Weiss, das Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine. Mehrere Stücke hat sie im Programm, die interessierte Veranstalter, auch Schulen, Verbände und Initiativen, im deutschsprachigen Raum für Gastspiele buchen können:

- In “Das Blaue Wunder” geht es ums Wasser, eine Ressource, die weltweit knapp wird. Mithilfe der Politik ist sie inzwischen ein lukratives Geschäft für Konzerne. Menschen, für die sie ein Lebensmittel ist, über das sie frei verfügen wollen, treten dem entgegen.

- “Die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch” zeigt den Afghanistan-Krieg aus der Sicht einer einheimischen Familie. Deutlich wird, dass es Alternativen zur Gewalt gibt.

- “Die Weissen kommen” - nach Afrika, auch heute noch mit der Absicht, diesen Erdteil auszubeuten. Die Menschen dort mit ihren Vorstellungen vom Leben erscheinen auf der Bühne, um wahrgenommen zu werden.

Weiter bietet die “Berliner Compagnie” Aufführungen, die sich mit der globalen Landwirtschaft befassen, mit ethisch sauberer Kleidung und sozialen Bewegungen.

Berliner Compagnie

maximil

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