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Beim Erinnern wird es klar

29. März 2017

Leben im Augenblick, ohne Gedanken an das Vergangene oder das, was kommt - das ist intensiv, faszinierend, berauschend. Diese Augenblicke sind allerdings in unserer Zeit sehr kurz geworden, einer löst rasant den anderen ab, entscheidend ist mehr das Tempo als das Ereignis. Was vorbei ist, interessiert nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn … Alles vergessen und nichts verstanden?

So geht es auch mit Nachrichten, die ankommen, persönlichen oder politischen: Sie treffen schneller ein als zuvor, in steigender Zahl, und sind so kurz wie möglich, damit die empfangende Person schnell genug auf die nächste Kurznachricht aufmerksam wird. Führend ist dabei der Kommunikationsdienst Twitter, der inzwischen auch vom vermutlich mächtigsten Mann der Erde genutzt wird, und ein grosser Teil der Medien macht es nach. Wie bei Produkten und Unterhaltungsangeboten zählt das Neue, nicht der Wert.

Die Folgen sind zunehmend unbedachte emotionale Reaktionen. Als Reflex auf einen Reiz äußert sich zuerst ein Gefühl, vielleicht verbunden mit einer instinktiven Aktion. Dabei bleibt es, wenn die Zeit oder der Wille zum Nachdenken nicht reicht. Der Mensch lernt nichts. Bewusste Diskussionen, um mit anderen Lösungen zu finden, fallen aus. Die Politik als Angelegenheit der Gemeinschaft versagt.

Verstehen, erfassen, was ein Ereignis bedeutet, womit es zusammenhängt und was daraus werden soll, denken - das braucht Zeit. Und einiges mehr: etwas Ruhe; dann Konzentration; und es braucht die Erinnerung an das, was vorher war. Der Aufwand bringt Wissen, befähigt dazu, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Probleme zu lösen. Vieles wird klar, und Erlebnisse, die sonst flüchtig wären, können dauerhaft und wertvoll werden.

Tanz um einen Freiheitsbaum in Deutschland nach der Französischen Revolution, um 1792/95 (unbekannter Maler)

Aus der persönlichen Vergangenheit entsteht die Identität. Sie ermöglicht ein souveränes Selbstbewusstsein. Wenn in der Gegenwart etwas nicht stimmt, kann die Ursache in der Lebensgeschichte liegen und vergessen sein. Dann empfiehlt es sich, nachzuforschen: Gab es eine verletzende Erfahrung? Wer oder was hat Einstellungen, den Charakter und Verhaltensweisen beeinflusst? Wie kam es zu Mängeln oder Irrtümern? Je besser wir unsere Geschichte kennen, umso freier können wir jetzt entscheiden.

Entsprechendes gilt für die weitere Geschichte einer Gemeinschaft, einer Region, eines Landes, einer Kultur, der Welt. Was wir miterlebt haben, sollten wir bei Bedarf vergegenwärtigen. Das Gedächtnis sagt uns etwas, aber diesmal wollen wir es genauer wissen und erkundigen uns nach Einzelheiten, Gründen, besonders seither gefundenen Erkenntnissen. Was scheinbar ausserhalb der eigenen Erfahrung geschehen ist, hat oft doch mit uns zu tun - umso wichtiger ist, sich fallweise damit zu beschäftigen. So können wir uns in der Welt orientieren. Zudem ist geschichtliches Wissen wie das Foto eines Platzes, das sich in die dritte Dimension öffnet, sodass ich hineingehen kann.

Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.
Kurt Tucholsky

Bevor die Medien etwas angeblich Neues verbreiten, sollten sie recherchieren, wie es sich aus Altem ableitet, was dahintersteckt und wie es mit anderem zusammenhängt. In den Archiven ist viel zu finden, und zum Nachfragen müsste auch Zeit sein. Zum Beispiel stärken Meldungen in Deutschland zu oft die Polemik gegen die Politik Russlands, und dabei wird unterschlagen, dass Deutsche im Zweiten Weltkrieg unzählige russische Menschen getötet und das Land verwüstet haben - die Opfer und ihre Nachkommen erinnern sich noch.

Wer eine Ahnung von den historischen Wurzeln der Zivilisation hat, kann sich besonders darüber wundern, dass die USA als eine der jüngsten Nationen den Irak bombardiert und in anhaltendes Chaos gestürzt haben, das Land der ältesten Kulturen, die für Europa und Amerika bedeutend waren. Ähnliches lässt sich im Umgang Europas mit Griechenland feststellen, dem wir einen grossen Teil unserer Kultur zu verdanken haben.

Das ist nicht mehr vielen bekannt. Dieses Wissen gehört zur humanistischen Schulbildung, die aufgrund der Herrschaft der Ökonomie von den Naturwissenschaften, der Informatik und Wirtschaftsausbildungen verdrängt wird. Mit ihr ist das Fach Geschichte auf dem Rückzug. Allerdings haben die Schulen Geschichte zu oft als langweiligen Stoff dargeboten. Auf den Bezug zum Leben kommt es an. Viele Museen lassen Geschichte erleben und sind mit bunten Inszenierungen oft das andere Extrem gegenüber dem dozierenden Unterricht. Die Schulen sollten die Museen mit ihren Mitmachwerkstätten mehr nutzen und das Erlebte erklären.

Geschichtliche Erkenntnisse werden ausserdem auf verschiedene Weise anschaulich vermittelt. Gebäude und Geräte sind Dokumente, private Erbstücke zeigen die Herkunft der Familie, alte Menschen erzählen als Zeitzeugen, Gemälde, Romane und Filme berichten von anderen Zeiten und Gegenden. Überall lassen sich Spuren, Zeichen, Geschichten entdecken, wahrnehmen und auch geniessen.

Daraus wird die eigene Geschichte, die weitergeht, und ein reicheres Leben im Hier und Jetzt.

Matthias Kunstmann / maximil

[Dazu:
Schneller - wohin und warum?
Fortschritt?
Stehen lernen]

→ KommentareThemen: Allgemein · Kultur · Politik

Achtsam, richtig, gesund

20. Dezember 2016

Gesund sein, vor Leben sprühen, aus dem Vollen schöpfen, sich wohl befinden, in sich ruhen, zufrieden sein … Ich wünsche, es wäre immer so. Für mich und meine Mitmenschen. Aber so rundum gesund sein können wir nur mehr oder weniger. Immer wieder stört etwas. Ich erreiche nicht, was ich will. Es gibt Ärger mit anderen. Die Arbeit stresst. Ich bin vor dem Abend müde. Etwas schmerzt mich körperlich oder seelisch. Oder jemand ist krank, verletzt, behindert.

Das ist das Gegebene. Wir versuchen, damit möglichst angenehm zu leben. Um mich gesund zu fühlen, achte ich auf das Folgende.

ATMEN: Luft brauchen wir immer. Doch öfters gelingt es nicht, ausreichend zu atmen. Es ist mehr als Luftholen: Tiefes Durchatmen belebt, entspannt und beruhigt zugleich. Natürlich ist es am besten in frischer Luft. Wenigstens einmal am Tag sich anstrengen bis zum kräftigen Atmen, das weitet die Lunge, sodass sie auch sonst mehr Luft aufnehmen kann. Beim Durchatmen können wir ausserdem die Haltung wiedergewinnen, die zum richtigen Handeln befähigt. Sogar die Inspiration kommt nach ursprünglichem Verständnis im Atem.

Solange ich atme, hoffe ich.
(Marcus Tullius Cicero)

WASSER: Das Leben kommt aus dem Wasser. Die Körperfunktionen vom Verdauen bis zum Denken sind auf genügend Flüssigkeit angewiesen. Trinken hilft gegen viele Beschwerden. Leitungswasser ist meistens das frischeste Getränk. Äusserlich fördert Wasser in warmen und kalten Duschen oder Bädern die Durchblutung und das Wohlbefinden.

Alles fliesst.
(Heraklit zugeschrieben)

ESSEN: Sich nach Gefühl ernähren wäre schon recht, doch einige Gedanken sorgen für eine gesündere Auswahl der Lebensmittel. Denn was üblich, verlockend oder bequem ist, kann sich ungünstig auswirken. Qualität ist wichtig, und sie sollte kritisch beurteilt sein. Den Vorzug verdienen ökologische, regionale und fair gehandelte Erzeugnisse, sie sind gleichzeitig für die menschliche Umwelt und Kultur gesund. Die Menge der Nährstoffe sollte ebenfalls stimmen: An Salat und Obst hat der Organismus täglich Bedarf, Proteine wie in Fleisch, Eiern und Milchprodukten werden hierzuland zu viel verzehrt, und oft verführt der Wohlstand dazu, mehr zu essen, als bekömmlich ist. Vielfalt ist zu empfehlen, und besonders Esskultur: Schön zubereitete Speisen, die wir an einem Platz mit erfreulicher Atmosphäre, ruhig und locker geniessen, achtsam - das tut auch der Seele gut.

BEWEGEN: In der mobilen Gesellschaft bewegen sich die Menschen meist zu wenig selbst. Die gewohnte Arbeit im Sitzen vor dem Bildschirm verschärft die Situation. Öfter aufstehen und ein Stück gehen, noch öfter den Kopf wenden und den Blick woandershin richten, sich strecken … Allgemein sind körperliche Übungen morgens und abends hilfreich. Wohltuend ist es zwischendurch schon, die Glieder zu schütteln und das Rückgrat aus Beugung und Anspannung zu lösen. Gehen kann übrigens zugleich das Denken in Bewegung bringen.

WAHRNEHMEN: Über sich selbst mehr wissen und erfahren, über den Organismus, biologisch, medizinisch, psychologisch - das erleichtert es, sich bewusst so zu verhalten, dass es guttut. Und weil Lebewesen sich entwickeln wollen, sollten sie mit allen Sinnen aufnahmebereit sein für das Vorhandene und darüber hinaus für das, was möglich ist. Sie können im Inneren ihre Bedürfnisse, Kräfte und Fähigkeiten wahrnehmen. Und die äussere Welt bietet ihnen eine Fülle von Geschenken und Möglichkeiten, die sich aufmerksam sehen, hören, riechen, schmecken, ertasten, empfinden, erkennen lassen.

BESINNEN: Die Zeit und die Umstände drängen oft und machen besinnungslos. Wir sollten so souverän sein, dass wir uns angemessene Pausen gönnen, um uns zu besinnen. Denn es geht immer wieder darum, sich zu orientieren und herauszufinden, was richtig und gut ist.

KOMMUNIZIEREN: Durch Beziehungen wird das Leben reich. Sie können aber auch belastend sein, in Krisen, Konflikte, Konfrontation geraten und schaden. Es kommt darauf an, sich gegenseitig zu verstehen und zu verständigen, sich empathisch in die andere oder den anderen einzufühlen, um das Gemeinsame zu ermitteln und zu Konsens und Kooperation zu gelangen. Kommunizieren kann heilen, über die Beteiligten einer Beziehung hinaus. Gemeinsam kann Besseres entstehen als allein.

Gemeinnutz geht vor Eigennutz.
(Montesquieu)

AUFGABEN: Das Beste geben - das ist mein Vorsatz für alles, was ich tue; zuerst gegenüber den Mitmenschen, ebenso im Beruf, in freiwilliger Arbeit, in der persönlichen Bildung. In den gewählten Aufgaben soll Sinn sein, dann können sie glücklich machen. Überfordern soll sich niemand, das brächte nicht die gewünschten Ergebnisse.

Jeder ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen.
(Martin Buber)

RHYTHMUS: Alles hat seine Zeit. Für Vorhaben gibt es den passenden Moment und die geeignete Dauer. Dann ist wieder Abwechslung dran, damit das Gleichgewicht erhalten bleibt und das Leben tänzerisch, beschwingt und vielseitig weitergehen kann. Das Herz gibt seinen Rhythmus. Gewohnheiten und Rituale bieten Halt; wenn sie zu starr werden, sollte sich etwas ändern. Was, das lässt sich spüren - und dann erneuern.

LICHT: Physisch stärkt das Licht der Sonne im Freien, psychisch hebt es die Stimmung auch in hellen Innenräumen. Da kann eine Lichtregie ebenso mit künstlichen Quellen das Wohlbefinden und die Schaffensfreude deutlich beeinflussen. Manche mögen Glanz, andere eher Gemütlichkeit. Auch die Lichtfarbe wirkt unterschiedlich. Punktlicht steigert bei vielen Tätigkeiten die Konzentration. Aber gleichfalls kann in der Dunkelheit Erleuchtung kommen …

SCHLAFEN: Nach den Leistungen des Tages müssen wir im Schlaf gar nichts tun. Wer dies nicht von selbst geniesst, schläft vielleicht erholsamer und erquickender, wenn klar wird: Im Bett nach dem Erlöschen des Lichts können wir loslassen, müssen nichts mehr denken, brauchen nichts mehr zu sorgen - Schlaf, Zeit und Traum erledigen Staunenswertes für uns. Wärme trägt dazu bei, und es ist ratsam, Schlafenszeiten gemäss dem persönlichen Biorhythmus zu beachten. So ist wahrscheinlich, dass wir über Nacht Frische, Wachheit, Kräfte und Lebenslust gewinnen.

GELASSEN SEIN: Gerade wenn es nicht so ist wie gewünscht - durchatmen, lächeln, gelassen einfach sein … Das ist nicht einfach, doch immer wieder einen spielerischen Versuch wert. Keinesfalls ist es nötig, auf alles sofort zu reagieren. Erst einmal schauen, sich besinnen, und alles Weitere ergibt sich am besten wie im Gebet eines Einsichtigen (*) um Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die nicht zu ändern sind, um Mut, Dinge zu ändern, die geändert werden sollten, und um die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Aufrichtiges Lächeln erzeugt übrigens tatsächlich entsprechende Gefühle. Und Humor lässt vieles leichter werden. Also: Ich kann das Leben gut sein lassen.

Die Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins.
(Marie von Ebner-Eschenbach)

Jetzt wünsche ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen, dass Sie möglichst gesund sind oder es werden, in diesem Jahr und im nächsten!

Claire Destinée / maximil

(* Reinhold Niebuhr, um 1942)

[Dazu:
Vor dem Bildschirm
Alle gewinnen mit Empathie
Lichtempfinden]

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Inflation - ein Anstoss zum Handeln

24. Oktober 2016

Vieles wird teurer. Die Zahlen des deutschen Statistischen Bundesamtes für die sogenannte Inflationsrate sehen dennoch klein aus - als hätten wir uns getäuscht und alles wäre ganz normal. Interessierte weist das Amt selbst darauf hin, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen statt dieser Durchschnittszahlen mit deutlich anderen Preissteigerungen zu rechnen haben. Haushalte, die einen grossen Teil ihres Budgets für Lebensmittel, Miete, öffentlichen Nah- und Fernverkehr oder Strom brauchen, zahlen jedes Jahr einiges über der offiziellen Rate hinzu. Gerade alltägliche, nötige, unvermeidliche Produkte und Dienstleistungen kosten immer mehr. Das trifft vor allem Menschen mit geringem Einkommen.

Die Statistik kann bekanntlich zu beliebigen Ergebnissen gelangen. Seit das Bundesamt die Methode der “hedonischen Preisbereinigung” anwendet, ist die Inflation geringer: Qualitätsverbesserungen von Produkten werden mit den steigenden Preisen verrechnet, sodass unter dem Strich niedrigere Kosten stehen. Verschlechterungen wie kürzere Lebensdauer oder weniger Kundendienst werden dagegen nicht berücksichtigt. Das funktioniert so seit 2002, dem Jahr, in dem der Euro eingeführt wurde.

Die politische Absicht dahinter ist, die Motivation zum Konsum aufrechtzuerhalten und, soweit es geht, zu steigern. Die Preise sollen nicht vom Kauf abschrecken. So erzielt die Wirtschaft hohe Gewinne. Deshalb sind auch die Zinsen auf Guthaben und Kredite praktisch abgeschafft: Die Leute sollen alles verfügbare Geld ausgeben, damit die Wirtschaft weiter wächst.

Inflation gehört zu diesem Konzept. Die Europäische Zentralbank definiert die Preisstabilität, für die zu sorgen ihre Aufgabe ist, mit einer statistischen Preissteigerungsrate von knapp unter 2 Prozent. Wenn die Einkommen ähnlich steigen und entsprechend Kaufkraft vorhanden ist, dient das dem viel beschworenen Wirtschaftswachstum.

Mit ihm nimmt zwar der materielle Wohlstand bei uns insgesamt weiter zu und ist längst oft Luxus zu nennen, aber diesen geniessen manche extrem, während immer grössere Bevölkerungskreise keine angemessenen Einkommenszuwächse haben und in engen finanziellen Grenzen leben. Das jedoch ist für die Regierungen weniger ein Problem als die abnehmende Nachfrage derjenigen Menschen, die inzwischen genug haben und nicht immer mehr konsumieren wollen.

Gemäss den klassischen Marktgesetzen würde weniger Nachfrage bei gleichem Angebot von Produkten zu niedrigeren Preisen führen. Dies wäre ein Grund, überflüssiges Geld nicht für den Konsum auszugeben, sondern damit immaterielle Güter zu fördern: soziale Arbeit, Bildung, Kultur, Projekte für die menschliche Gemeinschaft. Und ein Grund mehr, beim nötigen Konsum Produkte und Dienstleistungen mit ethischem Mehrwert zu bevorzugen: solche, die nachweislich ökologisch, sozial, fair sind, also nicht nur in Worten nachhaltig. Damit würde auch den schädlichen Folgen des wirtschaftlichen Wachstums entgegengewirkt.

maximil

[Dazu:
Geld fehlt Wert
Fällige Kritik des Wachstumsdenkens
Wirtschaft ist nicht alles]

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Wir regieren uns selbst am besten!

31. August 2016

Es ist Zeit für neue Gedanken. Besonders in der Politik, die Wichtiges regeln soll, was uns alle betrifft. Das funktioniert nicht mehr mit den alten Strukturen und Verfahren. Konflikte und Krisen in vielen Ländern kommen nicht aus gegensätzlichen politischen Ansichten der Menschen, sondern daher, dass die Politik ihre Aufgaben nicht erfüllt. Von Politikversagen ist die Rede. Damit nicht Mächtige, Unfähige oder Gefährliche bestimmen, unter welchen Bedingungen wir leben, muss sich Grundsätzliches ändern. Deshalb der Vorschlag, darüber nachzudenken: Brauchen wir Regierungen - oder regieren wir uns besser selbst?

Was tun Merkel und Gabriel, Hollande und Valls, Renzi und Alfano, Cameron, Obama, Putin und Medwedew, Erdoğan und Yıldırım, Szydło, Rajoy oder Juncker mitsamt ihren Ministerinnen und Ministern für die Völker? Was leisten sie, welche Schäden richten sie an? Lösen sie Probleme oder erzeugen sie welche? Ihre Köpfe sind ständig in den Medien, sie reden und über sie wird geredet, aber was genau wird durch sie für uns besser?

Wir sollen ihnen glauben, wenn sie uns sagen, dass die Probleme von aussen kommen, von Exportschwierigkeiten, von Billigkonkurrenz, von Weltmarktpreisen, vom Islamismus, von den Flüchtlingen, von der EU, von Verschwörergruppen, von Internetkriminellen, von der Mafia oder einfach von den anderen. Dabei sind sie selbst das Problem.

Die Regierungen vergrössern meistens die soziale Ungerechtigkeit. Sie verhindern humane Bildung. Sie lassen die Klimaerwärmung zu. Sie unterstützen die industrielle Landwirtschaft, die der Gesundheit, den Tieren und der Umwelt schadet. Sie reduzieren den öffentlichen Dienst und die Verwaltung, die für das Allgemeinwohl da ist. Sie beteiligen sich an der Ausbeutung armer Länder. Sie fördern die Rüstungsproduktion, heizen internationale Konflikte an und führen Krieg. Sie unterdrücken abweichende Ansichten. Sie brechen immer wieder das Recht, obwohl sie vom Rechtsstaat reden, und missachten die höchsten Gerichte. Sie halten nichts von echter Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie.

Manchmal verteilen die Regierungen auch Wohltaten. In Deutschland hat die Regierung einen Mindestlohn eingeführt, nachdem es ihn in anderen Ländern längst gab. Der US-Präsident hat mit einer Gesundheitsreform versucht, den Armen medizinisch zu helfen; dies ist nur zum Teil gelungen. In der Bilanz sehen die Regierungen schlecht aus.

Mit ihrem Handeln und Unterlassen sind die derzeitigen Regierungschefs und -chefinnen, auch wenn sie sich demokratisch nennen - Wahlen verändern bekanntlich nur sehr wenig -, immer noch den selbstherrlichen Monarchen von früher ähnlich, der alten Obrigkeit, den autokratischen Staatsführern. Sie halten die steile Hierarchie aufrecht, in der die Oberen beschliessen und die Unteren die Folgen zu tragen haben. Zugleich sind die Regierenden die Spitzenkräfte der politischen Unterhaltung.

Viele Bürgerinnen und Bürger wollen es auch so. Schliesslich haben sie keine wirkliche Wahl. Die Wege zu Lösungen sind blockiert. Viele andere machen bei rechtslastigen Bewegungen mit, wollen die Regierenden stürzen und eigene Leute an deren Stelle setzen, sodass alles noch schlimmer würde. Nein, Verzweiflung ist furchtbar. Was wir brauchen, ist Vernunft.

In Spanien hat das Volk zuletzt zweimal hintereinander das Parlament gewählt, ohne dass dieses dann eine Regierung gewählt hätte. Es kann sein, dass das Wahlvolk noch öfter vergeblich antreten soll. Stattdessen sollten seine Abgeordneten im Parlament selbst das Nötige tun, ihre gemeinsame Verantwortung annehmen und politische Entscheidungen treffen. Ein Vorbild ist die Schweiz, die zwar eine bescheidene Kollegialregierung mit jährlich wechselndem Vorsitz, aber kein Staatsoberhaupt hat.

Regierungen sind Segel, das Volk ist Wind, der Staat ist Schiff, die Zeit ist See.
(Ludwig Börne, 1786-1837)

Wir können miteinander darüber sprechen, was wir wollen, was wir uns für das Zusammenleben wünschen, wie wir unsere Gemeinschaften, die Gesellschaft, das Miteinander der Völker gut finden. Wir brauchen Volksabstimmungen über alle wichtigen Fragen. Für anstehende Probleme brauchen wir gute Lösungen. Räte von berufenen Fachleuten, die von Parteien und Lobbys unabhängig sind, sollen zusammen mit festen Fachkräften der öffentlichen Verwaltung in transparenten Verfahren Lösungen erarbeiten und vorschlagen. Die vom Volk gewählten Parlamente sollen über die laufenden staatlichen Geschäfte sachlich, nachvollziehbar, mit wechselnden Mehrheiten entscheiden. Für internationale Verhandlungen werden kompetente Persönlichkeiten aus dem Parlament, der Verwaltung, der Bevölkerung entsandt. Das bedeutet: Regierungen brauchen wir nicht mehr.

Wir alle bestimmen, was geschehen soll. An der Entwicklung von Gedanken und Vorstellungen zu praxistauglichen Programmen sollten wir nach unseren Möglichkeiten mitwirken. In solchen gemeinsamen, gerechten Entscheidungsprozessen werden nicht alle Wünsche erfüllt, aber wir werden Ergebnisse erhalten, mit denen wir zufriedener sein können. Wir regieren uns selbst am besten!

Salvatore Gentilesco
übersetzt von maximil

[Dazu:
Fortschritt?
Wird etwas besser?
Alle gestalten mit - so geht Demokratie]

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Gespräch über Grenzen

30. Juni 2016

Wenn ein Land seine Grenze deutlich machen will wie Großbritannien in der Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Europa, lässt sich das verstehen. In diesem Fall liegt die Trennlinie nach wie vor im Wasser und verschwimmt – was sich ändern soll, ist noch nicht entschieden. Aber Grenzen haben immer zwei Seiten, und sie sind wichtig.

Andere Lebewesen kennen ihre Grenzen besser als Menschen. Die neigen dazu, persönlich, politisch, ökonomisch zu missachten, was sie als Hindernis oder Beschränkung empfinden, und richten damit Schaden an, bei sich selbst und der Mitwelt. Für Kinder ist es natürlich, von Grenzen erst einmal nichts zu wissen, und die Erwachsenen haben die Aufgabe, sie ihnen zu erklären. Manche der Älteren gehen in der Arbeit über Leistungsgrenzen und brauchen dann Therapie. Im Sozialen und Zwischenmenschlichen ist Grenzüberschreitung ein Fehlverhalten.

Grenzen sprengen ist gewalttätig und Grenzen verschieben oder erweitern kann, wenn es nicht einvernehmlich geschieht, Betrug sein. In der Geschichte haben Länder ihre Grenzen durch Eroberung, Besetzung und Kolonisierung erweitert, auf Kosten der Besiegten und mit dramatischen Konsequenzen bis heute. Für die Wirtschaft haben Fachleute schon lang „Grenzen des Wachstums“ aufgezeigt, und nachdem die roten Linien inzwischen überschritten sind, hat die Menschheit unter anderem unwiderruflich mit den Folgen des Klimawandels zu tun.

Ohne Grenzen gibt es keine Identität. Deshalb gelten sie selbstverständlich oder werden nach Bedürfnissen und Möglichkeiten definiert: Hier ist mein Eigenes oder das sind unsere Besonderheiten, und jenseits sind die Rechte der Anderen. Die europäische Kultur will die individuelle Persönlichkeit entwickeln, aber sie hat auch die expansive kapitalistische Wirtschaft erfunden, die weltweit das Besondere gleich macht und Lebensweisen vereinheitlicht. Das fordert dazu heraus, auf die eigenen Werte zu achten.

Die grossen Wirtschaftsunternehmen akzeptieren keine Grenzen. Dies zeigt sich in der Geschichte der Europäischen Union: Sie begann als „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, und die Grenzen zwischen den Ländern wurden zuerst für das Kapital und den Warenverkehr aufgehoben und danach für die Menschen. Der Wettbewerb hat sich seither verschärft, regionale Unternehmen vernichtet und zu härteren Arbeitsbedingungen geführt. Konzerne und Regierungen vereinbaren darüber hinaus unter Ausschluss der Öffentlichkeit internationale Freihandelsabkommen mit weitreichenden Auswirkungen auf das Leben.

Das Gute der Union war, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg Frieden zwischen den europäischen Völkern gebracht hat – allerdings haben ihre Mitglieder später verstärkt Kriege ausserhalb betrieben, und gerade die alte Kolonialmacht Großbritannien stand mit Militäraktionen gegen Argentinien oder im Irak wiederholt an vorderster Front. Angesichts der Flüchtlinge, die auch wegen solcher Konflikte kommen, macht Europa seine Aussengrenzen zur Abwehr von Menschen dicht. Mauern und Zäune, die ausgrenzen, sind asozial, und als Zeichen von Feindschaft lösen sie Probleme nicht.

Die politischen Bewegungen, die sich in Europa für selbstbestimmtes Leben einsetzen, riskieren, dass die Wirtschaft weniger wächst oder zurückgeht. Damit zeigen die Beteiligten, was ihnen vorrangig ist. Vielen ist das offenbar gar nicht bewusst. Sie bekämpfen die Anderen, speziell die Fremden, statt das Eigene und die Gemeinschaft zu gestalten. Gespräche und Diskussionen, privat und organisiert im öffentlichen Raum, in den Ländern und über Grenzen hinweg, sollten das zu klären helfen. Und dann muss möglich sein, dass alle demokratisch entscheiden, wie sie leben wollen, für sich und zusammen.

maximil

[Dazu:
Fällige Kritik des Wachstumsdenkens
Wirtschaft ist nicht alles]

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Wirksame Stimme

28. Januar 2016

Als die ersten Filme mit Ton gedreht wurden, um das Jahr 1928, bekamen die bisher stummen Schauspieler und Darstellerinnen auf einmal eine Stimme. Das Publikum war oft überrascht. Viele im Kino hatten sich bei der früheren Pantomime derer, die sie kannten, andere Stimmen vorgestellt. Für manche der Schauspielenden wurde es schwierig, auch sprachlich zu überzeugen. Einige gewannen mit ihrer Stimme mehr Ausdruckskraft, Charme oder Faszination. Wenn die Filme allerdings seither in weiteren Sprachen gezeigt und dafür synchronisiert werden, können die Produktionsfirmen die vermeintlich passenden Stimmen wählen.

Bei der Aufnahme der alten, analogen Filme wurden die Stimmen, Geräusche und Musik ähnlich wie die Bilder fotografiert: Zunächst in elektrische Schwingungen umgewandelt, veränderten sie in der Tonkamera das Licht einer Lampe, das dann eine Zackenschrift auf den Filmstreifen zeichnete. Die Stimme wurde sichtbar. Das war das Lichtton-Verfahren.

Der Tonfilm konnte das Bild und die Stimme eines Menschen wieder zusammenfügen. Wie stumme Bilder schon seit Jahrtausenden Portraits von Persönlichkeiten über Entfernungen und Zeiten weitergeben, übertragen neuere Kommunikationsmittel umgekehrt unsichtbare, körperlose Stimmen: das Telefon, die Schallplatte, das Radio. Diese Stimmen regen noch mehr zu Vermutungen über die Personen an, die damit Zeichen geben, und öffnen weite Räume der Fantasie.


Roberto Benigni als Ivo Salvini in dem Film “La voce della Luna - Die Stimme des Mondes” von Federico Fellini, 1990: “Ihr habt es auch gehört - sie rufen mich, sie haben mich gerufen …”

Wer die eigene Stimme von einem Gerät aufzeichnen lässt und sie dann hört, empfindet sie erst als fremd. Der akustische Spiegel macht besonders deutlich, dass wir uns anders wahrnehmen, als wir auf unsere Mitmenschen wirken. Aus dieser Erkenntnis kann folgen, sich selbst aufmerksam und kritisch zu betrachten, anschliessend bewusster zu handeln und zu sprechen, insgesamt mit Gespräch und Empathie das Selbstbild und das Bild, das den anderen geboten wird, übereinstimmender zu gestalten.

Die Art des Sprechens ist wichtig dafür, wie jemand verstanden wird, welcher Eindruck vom Charakter und wie viel spontane Sympathie entstehen, wie weit Ziele zu erreichen sind. Deshalb ist es ratsam, die Stimme zu üben. Sie kann angespannt klingen oder locker, rau oder weich, zu hoch oder zu tief, zu laut oder zu leise, gehetzt oder träge, hell oder dunkel, nuschelig oder deutlich, brüchig oder fest, schneidend oder einschmeichelnd, tonlos oder klangvoll, monoton oder melodisch. In der Stimme kommen Emotionen zum Ausdruck, bis hin zum Lachen und Weinen.

Mit genau artikulierten Lauten, gezielt betonten Worten, geeigneten Pausen und Rhythmen wird das Sprechen zur Rede, zum Argument und zur Mitteilung. Vorausgesetzt sind Gedanken, die in treffende Aussagen geformt sind, mit der richtigen Wortwahl, klaren Sätzen und Aufmerksamkeit für das zuhörende Gegenüber. Manche hören sich gern reden und merken nicht, dass sie nerven … Eine angenehme Stimme, achtsames Sprechen und soziales Reden werden am besten schon im Kindesalter entwickelt.

Der Atem trägt die Stimme. Er bringt dem Organismus die Luft zum Leben, das ihn mit Lauten, Gesang, Botschaften wieder aussendet. Für gutes Sprechen und Singen setzt die Stimmbildung beim Atmen an.

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Der geschriebene Text liegt ruhig da. Manchmal flimmert er auf dem weissen Grund. Wie mit dem Finger in den Sand gezeichnet. Wind kommt auf … Atem. Behauche die Schrift, damit sie hält. Lies sie vor, solange sie da ist. Durch die Stimme wird daraus deine Geschichte. Du gibst sie wieder, vernehmlich, klangvoll. Schall und Rauch? Die gesprochenen Worte scheinen dahinzugehen und zu verschwinden. Diffuse Energie, Welle auf dem Ozean. Aber durch sie bist du gewachsen. Jemand hört zu und ist bewegt.
Claire Destinée
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Klangreiche, intensive oder dramatische Texte, gleich ob mündlich oder schriftlich übermittelt, verführen dazu, sie selbst zu sprechen, im Fall von Liedern zu singen, sie sich zu eigen zu machen und dabei die eigene Stimme zu fördern. Das geht beim Weitererzählen von Geschichten so, beim Lautlesen sprachstarker Passagen, beim Vorlesen und Rezitieren. Im Nachsprechen und Wiederholen religiöser Worte, Formeln und Texte können Menschen ihr Empfinden der Welt und des Daseins verändern, vertiefen oder steigern.

Die Stimme der Götter ist immer wieder durch Propheten, Heilige und Prediger hörbar geworden. Dabei entsprang das, was verkündet wurde, oft einem beschränkten menschlichen Verstand, und geistliche Führer sprachen wie weltliche Herren in eigenem Interesse. Die fernübertragene Stimme, die technisch möglich geworden ist und eine breite Öffentlichkeit erreichen kann, hatte anfangs etwas Magisches, und Mächtige konnten durch sie wie Götter wirken. Moderne Diktatoren nutzten Rundfunk und Lautsprecher für totale Macht: Die deutschen Nationalsozialisten brauchten für ihre Reden bei Massenveranstaltungen auf weiten Plätzen und in grossen Hallen die Beschallungsanlagen, um bis in die hintersten Reihen zu dringen und noch die Letzten anzusprechen, und sie verwendeten die “Volksempfänger”, um mit ihrer Propaganda auch in den Wohnungen präsent zu sein, wo die ganze Familie zuhörte.

In der Demokratie, wie sie danach neu entstand, kommt das Volk zu Wort, die Bürgerinnen und Bürger haben die Meinungsfreiheit und das Stimmrecht. Aber ihre Wahlstimme ist wenig aussagekräftig. Beim Wahlakt nennt sie meistens nur einen Parteinamen, gelegentlich noch Namen von Personen. Davor und danach ist sie für Jahre stumm, ohne an politischen Entscheidungen mitwirken zu können.

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Demokratische Resonanz bedeutet, dass die eigene Stimme im politischen Konzert zur Geltung gebracht werden kann, dass sie sich mit den anderen Stimmen vereinigt und dass sie auf einen Widerhall stößt, der oft genug auch ein scharfer Widerspruch sein kann, dass sie Folgen hat. Die Politikverdrossenheit, welche die Menschen auf die Straße oder auch zur AfD treibt, hat ihre Wurzel darin, dass die Bürger den Eindruck haben, ihre Stimme bleibe ungehört, sie finde keine Resonanz. (…) Die Stimme des Bürgers wird in der Wahlkabine „abgegeben“ und scheint dann verloren. Anders als in der etwa von Jürgen Habermas konzipierten Sphäre der Öffentlichkeit, in der sie sich als Stimme der Vernunft hörbar macht, oder in der politisierten Kultur der Nach-1968er-Jahre, als sie sich im Protestlied der Rebellierenden und in der Rockmusik wirkmächtig und fühlbar zu artikulieren verstand, wird die Stimme des Bürgers in der spätmodernen Welt vornehmlich in zwei Formen vernehmbar, die schon Entfremdung signalisieren: im Protestschrei der Wutbürger, der Widerhall sucht und dabei Repulsion, feindliche Ablehnung, zum Ausdruck bringt, und im medial erzeugten und verbreiteten (zynischen) Gelächter, das die diesseits und jenseits des Atlantiks so ungemein erfolgreichen politischen Comedy-Shows wie die „Heute-Show“ oder „Die Anstalt“ erzeugen und verbreiten. Der spätmoderne Bürger lacht aus Verzweiflung über eine Politik, die ihr nicht mehr antwortet, die ihr nichts zu sagen hat. (…) Das schließt indessen nicht aus, dass der in allen genannten Bewegungen hörbare Schrei nach Antwort den Beginn eines neuen politischen Zeitalters markieren könnte, das sich aufmacht, in der spätmodernen Welt angemessene Resonanzinstitutionen zu suchen und zu finden.
Hartmut Rosa, “Fremd im eigenen Land?”, Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.4.2015
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Dass Meinungen in verschiedener Form geäussert werden, ist zwar bedeutsam für die Diskussion und die Suche nach Lösungen, jedoch nehmen die Regierenden davon derzeit nur das auf, was ihnen zusagt. Die Stimme der Menschen in den Angelegenheiten der Gesellschaft wird erst dann vollwertig, wenn es bei allen wichtigen Themen regelmässige Beteiligung und gültige Abstimmungen gibt.

Matthias Kunstmann / maximil

> Phonorama - Ausstellung zum Medium Stimme, Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe 2004/2005
> Andra Joeckle, “O Stimmcoach, hilf! Ein vokaler Selbstversuch”, Deutschlandradio Kultur 21.11.2015

[Dazu:
Demokratie und was dran ist
Alle gewinnen mit Empathie]

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Alle gewinnen mit Empathie

22. November 2015

Ungelöste Konflikte? Mangelnde Zusammenarbeit? Misslungene Kommunikation? Vieles ginge besser mit Empathie: wenn Beteiligte sich in ihr Gegenüber hineindenken.

Es ist schon eine lebenslange Aufgabe, sich selbst zu verstehen. Die alte griechische Religion hat den Ratsuchenden am Apollo-Tempel in Delphi und in der Folge der europäischen Kultur empfohlen: Erkenne dich selbst! Zumindest in einzelnen Situationen die eigenen Interessen, Motive und Gründe einigermassen deutlich zu sehen, hilft beim Umgang mit anderen Menschen sehr. Damit wird es leichter, sich verständlich zu machen. Und wenn ähnliche Eigenschaften auch beim Gegenüber zu finden sind, ist es ebenfalls leichter zu verstehen. Beide Seiten können einander näherkommen.

Empathie heisst: Ich kann einen Mitmenschen verstehen, seine Gefühle wahrnehmen, mich in ihn oder sie hineinversetzen. Das geht manchmal spontan, manchmal ist es äusserst schwierig. Dennoch versuche ich es, gerade wenn ich zunächst wenig Gemeinsames sehe. Eine Aussage oder Handlung kann sehr verschieden gemeint sein. Ich bedenke die Umstände, den Hintergrund, den Kontext, frage möglicherweise gezielt nach. Dabei will ich mir mein Bild der oder des anderen nicht wie ein Vorurteil bestätigen lassen, sondern vorsichtig herausfinden, was tatsächlich stimmt. Dann kann ich angemessen reagieren, und es zeigt sich am ehesten, wo wir uns einigen können.

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Ruinen des Apollo-Tempels und des Theaters in Delphi, Griechenland - Foto: F. Harbin, Wikimedia Commons, Lizenz CC-BY-3.0
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In einem Konfliktgespräch wird oft aneinander vorbeigeredet, die Fronten verhärten sich, oder der Streit eskaliert. Um die Chancen für ein Ergebnis zu erhöhen, ist es nützlich, die Argumente der anderen Seite fragend und überprüfend in eigenen Worten wiederzugeben: „Willst du damit sagen, …?“, „Verstehe ich Sie richtig, dass …?“, „Kommt es dir darauf an, …?“ Insbesondere kann es weiterführen, wenn nach den Gefühlen des Gegenübers gefragt wird: „Sind Sie verärgert über …?“, „Fühlst du dich benachteiligt, weil …?“, „Empfindest du als Mangel, dass …?“ Dies entspricht dem gruppendynamischen Konzept des „Kontrollierten Dialogs“.

Ohne Mitgefühl ist in Konflikten das Risiko gross, dass sie in Gewalt ausarten. Wer nur die eigenen Ansprüche, Wünsche und vermeintlichen Rechte kennt, isoliert sich sozial und ist eher bereit zum Beleidigen, Verletzen, schliesslich zu Tätlichkeiten. Immer wenn es weniger dramatisch um Zusammenarbeit geht, beispielsweise unter Kolleginnen und Kollegen, hat fehlendes Mitgefühl Missverständnisse, Störungen und Verweigerung zur Folge, Potenzial wird nicht genutzt. Umso mehr Anlass gibt es zu überlegen, wie Empathie gelernt werden kann.

Empathie ist eine natürliche Eigenschaft. Schon kleine Kinder zeigen sie, sind traurig mit anderen und lachen mit ihnen, wollen dann auch trösten, helfen, teilen. Unwillkürlich wird die Mimik eines Gegenübers nachgeahmt, und damit verbindet sich das entsprechende Gefühl. Das Zusammenleben braucht empathisches Verhalten, unter normalen Bedingungen und besonders in schwierigen Umständen, in Konflikten und Krisen. Tiefenpsychologisch gesehen haben alle Menschen Anteil am kollektiven Unbewussten, das die Gemeinschaft trägt. Während Kräfte wie die aktive Empathie Leben und Entwicklung fördern, wirken dem hemmende und zerstörende Kräfte entgegen.

Ein Kind, das von seinen Eltern oder anderen Bezugspersonen kein Mitgefühl erfährt, das vernachlässigt wird oder Hilflosigkeit erlebt, wird wahrscheinlich wenig empathisch werden. Liebe ist nicht immer mitfühlend, sie kann selbstbezogen sein, doch als kommunikative Zuwendung ist sie vor allem für Kinder das entscheidende Lebensmittel. Wenn die Eltern sie nicht geben können, sollten ihre Kinder Menschen anvertraut werden, die dazu imstande sind. Kitas mit ausreichend Fachkräften, die auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen können, bieten zudem ein Gemeinschaftsleben mit empathiefördernden Erfahrungen. Das ist auch für viele Einzelkinder wichtig. In zahlreichen Fällen wäre es für die Kinder am besten, zusammen mit den Eltern in sozialpädagogisch unterstützten Wohngemeinschaften zu leben. Denn jedem Kind steht das Recht zu, vermittelt zu bekommen, womit es eine beziehungsfähige, in vielfältigem Austausch lebende Persönlichkeit werden kann.

Vorhandene Empathie wird durch Autoritätsgläubigkeit oder Gruppenzwang eingeschränkt, manchmal sogar ausser Kraft gesetzt. Das hat das „Milgram-Experiment“ von US-Wissenschaftlern 1961, das später in Deutschland als „Abraham-Versuch“ nachvollzogen wurde, sehr deutlich gemacht. Ausgehend von Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sollte untersucht werden, wie weit Menschen in bestimmten Situationen gegen ihr Gewissen handeln. Ein Grossteil der darüber nicht informierten Versuchspersonen löste immer stärkere Elektroschocks aus, obwohl Schmerzen und Leiden des Opfers zurückgemeldet wurden – weil der Versuchsleiter das im Namen der Wissenschaft verlangte. In einem Herrschaftsverhältnis fühlen sich die Abhängigen weniger verantwortlich. Festgestellt wurde auch: Je näher der von Gewalt betroffene Mensch ist, desto mehr wirkt beim Handelnden zumeist das Mitgefühl.

Angehörige einer Gruppe haben Sympathien für die anderen Mitglieder aufgrund gemeinsamer Einstellungen, Werte oder Interessen und handeln deshalb solidarisch, müssen aber dabei nicht verständnisvoll oder einfühlsam sein. Stattdessen können sie sich gegen Aussenstehende, „Fremde“, andere Gruppen misstrauisch bis aggressiv verhalten und Feindbilder pflegen. Geboten sind aber Toleranz und Respekt, damit es gelingt, einander zu begegnen und kennenzulernen. Vertrauen ist die Grundlage für konstruktive Beziehungen.

Mitleid ist hilfreich nach der Formel „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“. Es sollte sich nicht unbedacht als Geste von oben herab äussern und damit vor allem dem eigenen Ego dienen. Das mögen beispielsweise Menschen mit Behinderungen nicht. Empathisch ist es, auf Bedürfnisse Benachteiligter einzugehen, wie etwa gleicher Zugang zu Räumen, Rechten und Chancen.

Identifikation mit einem anderen Menschen ist ähnlich wie Anpassung für empathisches Verhalten eher nachteilig, weil dabei der für achtsames und kritisches Wahrnehmen nötige Abstand fehlt. Anderenfalls werden mehr oder weniger bewusst wahrnehmend immer wieder die bisherige Erfahrung und die gewonnene Menschenkenntnis herangezogen.

In der modernen Gesellschaft ist Empathie schwieriger geworden. Das ist verursacht durch die sozialen Veränderungen, die herkömmliche Gemeinschaften wie Partnerschaften von Männern und Frauen, Familien, Nachbarschaften, Belegschaften von Unternehmen lockern und auflösen, wobei sich neue Gemeinschaften weniger verbindlich, flexibler und für kürzere Dauer bilden. Zugleich werden die Menschen individualistischer und entfremden sich dadurch voneinander. Hinzu kommen verstärkter Leistungsdruck und Wettbewerb, die egoistische Einstellungen und Rücksichtslosigkeit begünstigen. Jedoch wird Empathie auch zunehmend als Aufgabe gesehen. Die Sehnsucht nach echter Gemeinschaft bleibt.

Empathie verbessert die Kommunikation. Wie diese wird sie statt zum beiderseitigen Vorteil auch zu manipulativen Zwecken angewendet. Wer andere durchschaut, ihre Motivationen kennt und ihre Reaktionen vorhersieht, kann sie kontrollieren und steuern. Deshalb ist es wichtig, den privaten Bereich zu schützen.

Unternehmen und Regierungen wissen schon viel über uns, durch klassische Marktforschung, Demoskopie und inzwischen vor allem aus den Datenmengen des Internets, und sie verwerten die Informationen in ihrem Sinn. Es ist harmlos, dass die Wirtschaft mit personalisierter Werbung Umsätze steigern will. Unser Leben beeinflusst dagegen massiv, dass sogenannte Denkfabriken, also Institute zur Beratung von Wirtschaft, Politik und Medien, ganze Bevölkerungen kontinuierlich beobachten und aus der Analyse von deren Einstellungen, Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Stimmungen die geeigneten Strategien ableiten, um Macht zu sichern und demgemäss die Gesellschaft zu formen. Denn die Mächtigen haben mit ihrem Wissen über die Menschen längst die modernen Gesellschaften in effizienter Weise ungerecht, antiökologisch und demokratiefeindlich verändert. Dem müssen die Betroffenen das gesammelte Wissen über die Macht entgegensetzen, wozu besonders Transparenz des Lobbyismus und des staatlichen Handelns beiträgt.

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“Freiheit im tiefsten Sinne des Wortes bedeutet (…) mehr, als ohne Rückhalt zu sagen, was ich denke. Freiheit bedeutet auch, dass ich den anderen sehe, mich in seine Lage hineinzuversetzen, in seine Erfahrungen hineinzufühlen und in seine Seele hineinzuschauen vermag und imstande bin, durch einfühlsames Begreifen von alledem meine Freiheit auszuweiten. Denn was ist das gegenseitige Verständnis anderes als die Ausweitung der Freiheit und die Vertiefung der Wahrheit?”
Václav Havel, Staatspräsident von Tschechien und Schriftsteller, am 24.4.1997 im Deutschen Bundestag

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In einem anderen Bereich wirkt Empathie heilend: wenn Fachleute für Krankheiten und Krisen die leidenden Menschen besser verstehen als diese sich selbst. Sie hören zu, folgen ihrer Intuition, erspüren mit hoher Sensibilität die Persönlichkeit ihres Gegenübers ganzheitlich. Die entsprechenden einvernehmlichen Therapien und Beratungen werden wahrscheinlich gelingen.

Theaterspielen, auf einer Bühne oder sonst im Leben eine Rolle übernehmen, das setzt empathische Kompetenz voraus und übt sie. Je bewusster die schauspielende Person eine andere darstellt, desto deutlicher wird für sie deren Eigenart mit Unterschieden wie Ähnlichkeiten. Dass sie in einer anderen, stimmigen und glaubwürdigen Rolle die Perspektive wechselt, ist befreiend und erweitert die Möglichkeiten des Zusammenlebens.

Es geht aber auch ohne Aktion, an einem ruhigen Ort – im Meditieren lassen sich andere Menschen und das Verbundensein mit ihnen empfinden.

Matthias Kunstmann / maximil

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Ein wirklich gutes Buch …

7. Oktober 2015

… bereichert die Welt mit einer ungewöhnlichen Darstellung oder einer besonderen Geschichte, lässt Erfahrungen nachvollziehen, verwertet die Möglichkeiten der Sprache in einem treffenden und auch schönen Stil – wobei es mich auf neue eigene Gedanken bringt, sodass das Lesen Folgen hat und ich mit dem Geschriebenen etwas anfangen kann.

> Drei Fragen an Lektoren und Lektorinnen mit Antworten
im Bücher-Blog buchstaebliches.de

Matthias Kunstmann / maximil

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Wirtschaft ist nicht alles

21. Juli 2015

Liebe nach dem ökonomischen Prinzip wäre nicht das Wahre. So ist das bei vielem, was zum Glücklichsein wichtig ist: Es lässt sich nicht berechnen. Das rationale Denken, das in Europa entwickelt wurde und sich überall durchzusetzen versucht, will jeden Bereich des Lebens messen, in Geld bewerten und wirtschaftlich beurteilen, mit dem Risiko, schweren Schaden anzurichten. Wenn Bildung, Gesundheit oder das Soziale nur gefördert wird, um einen kurzfristigen finanziellen Nutzen zu erzielen, dann wird das Bedeutsamste missachtet. Aber das freie Denken, das menschliche Werte kennt, ist wach und wirkt der Ökonomisierung der Welt entgegen.

Achtet auf das Wertvolle, das es nicht zu kaufen gibt, ist ein guter Rat. Ein weiterer: Nehmt wahr, was ihr wirklich braucht - vielleicht eine Aufgabe, oder Zugehörigkeit, Freundschaft, Erkenntnis, Klarheit, Ruhe, Natur, Schönheit … Wer sich mit solchen Entdeckungen beschäftigt, hat weniger Bedarf an Konsum und handelt bewusster. Der materielle Luxus der Wohlstandswelt wird dann eher als hinderlich und störend empfunden. Wachstum ist dann keines mehr der Menge und Masse, sondern zum Beispiel das der Persönlichkeit oder der Gemeinschaft.

Produzieren im Übermass bis zur Sinnlosigkeit, entsprechend Verbrauchen ohne Bedacht bis zur Verschwendung sowie Reichwerden der einen auf Kosten der anderen bis zur Perversion folgen einer Ideologie, die sich in der Werbung ausdrückt. Multimediale Reklame markiert die westliche Zivilisation seit der Industrialisierung und ihrer Massenproduktion, und sie besetzt jeden verfügbaren Raum. Sie spricht Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte an, die über den praktischen Nutzen der Produkte weit hinausgehen: Lebensfreude, Anerkennung, Sicherheit, Erfüllung, Glück …, gerade das, was sich mit Geld nicht anschaffen lässt. Somit verspricht die Werbung immer wieder mehr, als die Angebote halten können. Indem Waren und Dienstleistungen als Ersatzbefriedigungen angenommen werden, wird um Marken und Objekte Kult inszeniert.

Da ist es aufklärerisch, Werbung mit Information und Gegenkampagnen (Adbusting) zu konfrontieren. Und es ist befreiend, Werbeanlagen (ausser für die ansässigen Geschäfte) von öffentlichen Plätzen zu verbannen, wie es die französische Grossstadt Grenoble vormacht. Dort hat eine neue, bürgerschaftliche und ideenreiche Mehrheit im Stadtparlament beschlossen, den Menschen und ihren Sichtweisen den Raum, das Panorama und die Gestaltungsmöglichkeiten zurückzugeben. Anstelle weltweit gleicher Werbebilder von Konzernen werden die Eigenart der Stadt, ihre Initiativen und ihre Kultur gestärkt - und damit auch die eigene Wirtschaft.

> Bitte keine Reklame! (Stadt Land Glück - BUND)
> Grenoble libère l’espace public et développe les expressions citoyennes (französisch)

maximil

[Dazu:
Geld fehlt Wert
Was tun für gutes Leben?]

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Freiheit?

5. Mai 2015

“Was der Kapitalismus als Freiheit verkauft, erfüllt nicht die Bedingungen von Freiheit. Denn diese Freiheit gilt nicht für alle, was Voraussetzung echter Freiheit wäre. Wenn ich mir die Arbeitsbedingungen anschaue, sehe ich überall Freiheitseinschränkung und Freiheitszerstörung. Wie steht es also mit dem Freiheitsideal des Westens? Die These ist: Diese Freiheit ist nur eine Behauptung. Die westliche Ideologie setzt ein bestimmtes Prinzip, das Prinzip der Profitmaximierung, an die Stelle der Freiheit. Das ist nicht die Erfüllung von Freiheit, sondern eine Ideologie, die Ideologie des Egoismus. Sie liefert überhaupt keine Identifikationsmöglichkeit für die Menschen. Wofür soll sich denn ein junger Mensch begeistern? An welcher Idee soll sie oder er sich denn entzünden, wenn sie oder er auf den Westen schaut?”

Johannes Stüttgen / Omnibus für direkte Demokratie, in: mdmagazin 1.2015,
S. 22 f.

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